Prag - Da fehlen mir die Worte, hast du da noch Töne, gibt es das, ist das wirklich wahr, ich glaube, mich tritt ein Pferd, kneif mich mal, ich bin im absolut falschen Film, das gibt’s doch gar nicht, ich fresse einen Besen. Mein einziger Kritikpunkt: Haltet mal schön den Ball flach und lasst die Kirche im Dorf, das war erst das Halbfinale.
Regengüsse und Schweißausbrüche
Es war ein verrückter Tag in der goldenen Stadt mit den hundert Türmen, drückend schwül mit Regenschauern, die jedoch kaum Erleichterung schafften. Ich werde mittags zum ersten Mal nass, das ist angenehm und sorgt für etwas Abkühlung. Die berufliche Verrichtung auf Sommersparflamme ermöglichte mir Siesta-Zeit, doch ich kann sie kaum nutzen, ich falle bloß für vielleicht zehn Minuten in diesen Energie-Nickerchen Modus, dann noch ein Mal, das war’s. Später bade ich abwechselnd in Nieselregen und Schweißausbrüchen, es ist ein Sommertag in Mitteleuropa. Abends entlädt sich schließlich ein Gewitter mit einem prächtigen Regenguss.
Fred’s volle Bar
Ich schaue das Spiel in Fred’s Bar, sie ist voll, doch ich bekomme meinen Stammplatz, hinter mir steht Nick, Petr ist da und all die anderen, Gordon, Lexa und und und. Ich bin kein bisschen nervös, sondern müde, erschöpft, ausgepowert, erledigt und winke auf die Aufforderung, die Nationalhymne (natürlich die deutsche) mitzusingen nur ab. Das Spiel beginnt und Brasilien übernimmt in den ersten Minuten die Initiative. Mir schießt ein Gedanke durch den kopf, sechs zu Null, allerdings für Brasilien. Löw hat das Team vom Frankreich-Spiel gebracht, wenn ich das richtig sehe, Lahm hinten als rechter Verteidiger, Mertesacker zunächst auf der Bank, im Mittelfeld mit Schweinsteiger, Khedira, Kroos; Müller, Özil und Klose in der Offensive. Die Mannschaft ist Bayern München minus Robben und Ribéry plus Khedira und Özil, Hummels stammt aus der Bayern-Jugend und Klose hat auch bei den Bayern gespielt, Höwedes ergänzt als elfter Spieler hinten links die Mannschaft.
Bärenstarker Schiedsrichter
Die ersatzgeschwächten Brasilianer wollen Elfmeter schinden, das wird früh klar. Jerome Boateng hat da aber stark was dagegen und der mexikanische Schiedsrichter – wahrscheinlich einer der vielen Rodriguez in diesem Turnier – lässt sich auf nichts ein. Dann findet Deutschland auch mal statt, es gibt einen Eckball, den Kroos reinbringt. Müller steht am langen Pfosten mutterseelenallein, hält den Fuß hin und es steht eins zu Null. Das ist der Nachteil vom Fernsehfußball, als Zuschauer ist man immer auf die Kameraführung angewiesen. Ich weiß also nicht, ob der Müller in den freien Raum reinlaufen musste oder ob sich sechs Brasilianer auf Klose und Hummels konzentriert haben und mit ihnen an den kurzen Pfosten gelaufen sind.
Fünf Tore in 17 Minuten
Die Bayern-München-plus-Maschine, initiiert von Jürgen Klinsmann, entwickelt von Luis van Gaal, mehrfach konsolidiert von Jupp Heynckes und zuletzt verfeinert von Pep Guardiola erteilt Brasilien eine Lehrstunde im schönen, technisch anspruchsvollen und effizienten Spiel.
Was danach folgt, ist schlichtweg unfassbar, denn nach 28 Minuten steht es fünf zu Null. Die deutsche Nationalmannschaft spielt jeden Konter zu Ende, sie spielt sich im Sechzehnmeterraum die Bälle zu, bis ein Spieler frei steht und nur noch einzuschieben braucht. Dieses Spiel muss ein absoluter Alptraum für Dante, ebenfalls Bayern München, sein, er ersetzt den gesperrten Thiago Silva im Deckungszentrum, doch an ihm alleine liegt es nicht. Auch nicht an Luis Gustavo, ehemals Bayern München, zuvor Hoffenheim und zuletzt Wolfsburg, der nach seiner Sperre wieder in die Mannschaft rutscht und die Defensive stärken soll. Deutschland schießt Tore im Minutentakt. Es gibt solche Spiele, da gelingt einer Mannschaft einfach alles, der anderen nichts. Die Bayern-München-plus-Maschine, initiiert von Jürgen Klinsmann, entwickelt von Luis van Gaal, mehrfach konsolidiert von Jupp Heynckes und zuletzt verfeinert von Pep Guardiola erteilt Brasilien eine Lehrstunde im schönen, technisch anspruchsvollen und effizienten Spiel. Selbst Benedikt Höwedes sieht technisch besser aus als seine Gegenspieler.
Klose schießt Nummer 16
Natürlich muss man erwähnen, dass Klose seinen WM-Treffer Nummer 16 schießt und jetzt vor Brasilien-Ronaldo führt. Klose ist damit jetzt schon eine Legende, Klose, der Familienmensch, der unglamouröse, der Schlesier, den es als Jugendlicher mit den Eltern in die Pfalz verschlägt. Heidi, Amerikanerin mit holländischen Wurzeln und ausgestattet mit einem Pfälzer boyfriend nennt sie die Hinterwäldler, sicherlich ist die Pfalz nicht die spektakulärste und bekannteste Region Deutschlands, ländlich geprägt, home von etlichen US-amerikanischen bases, teilweise mittelgebirgig mit Weinanbau, zum Rhein hin in die urbane Region Ludwigshafen-Mannheim ausufernd. Dort ist die Heimat von Helmut Kohl, dem Kanzler der Wiedervereinigung und dort schlug das Fußball-Herz bei Deutschlands erstem WM-Sieg, dem Titel 1954 mit fünf Spielern vom 1. FC Kaiserslautern: Fritz und Ottmar Walter, Werner Liebrich, Horst Eckel und Werner Kohlmeyer. Um den Pfälzer Vorzeigeklub ist es aber ruhig geworden in den vergangenen Jahren, er spielt mehr in der zweiten als in der ersten Liga. Noch beim letzten Titelgewinn einer deutschen Nationalmannschaft, dem EM-Sieg 1996, war ein Kaiserslauterner Spieler dabei, Stefan Kuntz, der das wichtige Tor im Halbfinale geschossen hat. Kuntz stammt übrigens aus Neunkirchen/Saar, ist also bundeslandtechnisch kein Pfälzer, doch man sollte sich in dieser Region endlich von dem kleinlichen Kirchturmsdenken verabschieden. Heute dominiert die Region Mainz 05, wo André Schürrle seine Reife erhalten hat. Mainz 05 ist der Klub, den Jürgen Klopp als Bundesliga-Verein erfunden hat, bevor er Borussia Dortmund auf Vordermann brachte. Die Dortmunder Spieler spielen bei dieser WM keine große Rolle, abgesehen von Mats Hummels natürlich. Marco Reus hat sich im Testspiel vor der WM verletzt, Gündogan eine höllische Saison hinter sich, Schmelzer hat zu sehr mit Verletzungen laboriert, dafür durfte Durm mitfahren, hat aber noch nicht gespielt, Großkreutz ist auch mit dabei, bisher ohne Einsatzzeit und Weidenfeller macht den Ersatz für Neuer.
Brasilianischer Offenbarungseid
Nach 28 Minuten steht es also fünf zu Null. Dieses Spiel ist für ganz Brasilien ein böser Traum, denn es hat einfach überhaupt keine Chance. Selbst mit Neymar, denke ich mir, wäre in diesem Spiel gegen die feine deutsche Maschinerie kein Kraut gewachsen gewesen. In ein paar Szenen blitzt die neu-brasilianische Nickligkeit auf, doch das Spiel bleibt bis zum Ende erstaunlich fair, Brasilien zeigt sich als guter Verlierer und versucht nicht, Gegenspieler ins Krankenhaus zu treten. In der Halbzeit erkläre ich einem befreundeten Journalisten, Afrika-Spezialist mit sehr guten Deutsch-Kenntnissen das Wort Offenbarungseid, denn das ist es, was Brasilien leistet.
Die zweite Hälfte ist schnell erzählt, Brasilien kommt mit Schwung aus der Kabine und Neuer erhält Gelegenheit, seine Klasse unter Beweis zu stellen. Nach etwa zehn Minuten beruhigt sich das Spiel wieder, Julio César hält nach etwa einer Stunde auch mal einen Ball, ich denke, es ist der erste in diesem Spiel, erinnere mich aber später, dass er Kloses ersten Schuss noch abwehren konnte, ehe der im Nachschuss trifft. Klose darf dann auch gehen und sich für das Finale schonen, für ihn kommt Schürrle, der dann noch zwei Tore macht. Zwischendurch müssen die Mitspieler Müller beruhigen, der sich zunehmend in Zweikämpfen verwickelt und über den Schiedsrichter aufregt, damit der sich keine gelbe Karte abholt. Ach ja, Mertesacker spielt in der zweiten Hälfte für Hummels, aber gegen diese Brasilianer fällt seine Schlacksigkeit nicht besonders auf. Ganz am Ende darf Brasilien noch das Ehrentor schießen, was Neuer ein wenig aufregt, aber das war’s dann auch. Die Bayern-Mitspieler trösten Dante und dann ist Schluss. Ich kann natürlich noch nicht schlafen gehen, dieses Halbfinal-Spiel mit einem Ergebnis wie bei der WM 1954 ist einfach zu aufwühlend. Ich treffe auf der Straße eine Handvoll Jungs aus Hannover, die gerade vom Metallica-Konzert kommen. Sie kennen das Ergebnis und wollen wissen, wie das möglich war.
Genie gegen Kollektiv
Seit mehr als einer Woche rechne ich mit einem europäisch-südamerikanischen Finale. Sollte es so kommen, dann wäre es Argentinien und der Vergleich, ob eine Mannschaft mit starken Spielern um Messi, der im letzten Spiel mehr in die Spielmacher-Rolle gerutscht ist, etwas gegen diese Spielmaschinerie Deutschlands ausrichten kann.
Später erläutere ich Nick meine Theorie, was im brasilianischen Fußball in den vergangenen zwanzig Jahren geschehen ist, es fallen Namen wie Carlos Dunga, Kapitän 1994, Stichworte wie Europäisierung und natürlich die leistungsentwickelnde Champignon-Liga, die auch kein Team gewinnen kann, das neu zusammengekauft ist, wie etwa Manchester City, sondern nur eine Mannschaft, die gewachsen ist. Das ist der große Vorteil Deutschlands gegenüber den anderen Mannschaften im Halbfinale, es ist genau so gut eingespielt wie ein Vereinsteam. Es fehlen die absoluten Spitzenstars wie Messi, Robben oder Neymar, wenn er hätte spielen können, dafür liegt aber die Last auf vielen Schultern verteilt, die Mannschaft ist eben nicht abhängig von der Tagesform eines einzelnen. Und man muss sich die Spieler anschauen, die nicht bei Bayern München spielen. Sami Khedira und Mesut Özil haben drei Jahre lang unter Mourinho gearbeitet, Özil ein Jahr unter Arsène Wenger, Podolski und Mertesacker arbeiten unter Wenger, Schürrle seit einem Jahr unter Mourinho, die Dortmunder unter Klopp, das ist der stand of the art im Vereinsfußball. Die Stunden verfliegen und ich ernte am folgenden Morgen Verständnis, dass ich einfach mental nicht in der Lage bin, meiner beruflichen Verpflichtung nachzukommen.
Gegen Messi oder van Gaal?
Seit mehr als einer Woche rechne ich mit einem europäisch-südamerikanischen Finale. Sollte es so kommen, dann wäre es Argentinien und der Vergleich, ob eine Mannschaft mit starken Spielern um Messi, der im letzten Spiel mehr in die Spielmacher-Rolle gerutscht ist, etwas gegen diese Spielmaschinerie Deutschlands ausrichten kann. Es wäre ein interessanter Vergleich zwischen dem Genius des einzelnen und dem Kollektiv der vielen Begabten.
Wird es aber dann doch ein Spiel Deutschland gegen Holland, werden wir van Gaal gegen den von ihm mitgeprägten Fußball erleben, das ist durchaus nicht ohne Reiz.
Gerd Lemke