Prag - Tag 31+y, y>x: Die Tage am Strand vergingen, Zidane meldete sich zwischendurch zu Wort, er wolle sich später erklären, er entschuldige sich bei allen Vätern für sein schlechtes Beispiel den Kindern gegenüber, bedauere seine „Geste“ aber nicht.
Nun, in der Sprache des Finalenverlierers spricht man bei diesem Vergehen tatsächlich von einer Geste, also einer Handlung, die wohlüberlegt über ihre Gegenwart hinausweist und für die Zukunft eine symbolische Bedeutung erlangen soll. Handlungstheoretisch gesehen ist eine Geste eine beabsichtigte Handlung, keineswegs also als Kurzschluss zu sehen. Zidane hat dem Weltfußball einen letzten Zauberpass zugespielt, aber wer ist der Adressat, diesen aufzunehmen?
Das Opfer als Täter
Der Andere, also der Provokateur, hat schließlich seine Provokation und seine Absicht zu provozieren zugegeben. Und wurde für zwei Spiele bestraft. Es habe sich aber keineswegs um eine rassistische Provokation gehandelt, sondern um etwas, was man hundert Mal auf dem Platz höre oder sage. Übrigens habe er die Mutter dabei nicht erwähnt.
Als minimale Übereinstimmung zwischen allem Gesagten blieb also noch die Schwester, deren Geschlechtlichkeit höchstwahrscheinlich übel verunglimpft wurde. Oder deren Lebenswandel sehr in Zweifel gezogen wurde, insbesondere was ihren Lebensunterhalt betrifft. Man konnte sich das ja ohne große Phantasie vorstellen. Eine Woche später bestätigte Zidane diese Deutung und nahm so die ganze Spannung aus der Geschichte (ca. am Tag 31+10).
Ein WM-Endspiel, das letzte Spiel des Göttlichen, ein solcher Ausbruch - und dann alles nur wegen so einer Kindergartenscheiße? Le coup de tête also gar kein coup d`état? Sondern nur ein blöder Dumme-Junge-Streich? Putain!
Die Gewinner als kleine Jungs
Während ich so darüber nachdachte, kamen mir auch wieder die Bilder vom Finale in den Sinn, genauer, unmittelbar nach dem letzten Elfmeter. Gattuso zog seine Hose aus und wollte in Unterhose zur Siegerehrung. Ein anderer zog dem Pokal eine lustige Mütze über.
Wie im Kindergarten tollten sie herum, bis ein FIFA-Offizieller sie zur Ordnung rief. Ich hätte ja zu ihnen gesagt, so, Kinder, jetzt reichts, jetzt sperre ich das Spielzeug - also den Pokal - wieder schön für vier Jahre in den Schrank, daheim nach Zürich, den bekommt ihr jetzt nicht zum Spielen. Das habt ihr nun davon! Ja, so hätte ich es gemacht.
Die Gewinner als böse Jungs
Und gleich kamen noch zwei Erinnerungen an die vorhergehende Champions League Saison. Spieler Materazzi, der Provokateur, rammte Gegenspieler Sorin den Ellbogen ins Gesicht. Und zwar folgendermaßen, während des Viertelfinales Villareal gegen Inter Milan. Sorin sprintete aus dem Mittelfeld in Richtung Tor, forderte ein steiles Anspiel. Materazzi sah das, drehte sich, läuft langsam Richtung eigenes Tor, streckte aber den Ellbogen raus. In den der um einiges kleinere Argentinier prompt reinlief und blutüberströmt auf dem Rasen liegen blieb. Kein Foul, keine Karte, nichts. Unfassbar!
Zweite Szene, Achtelfinale zwischen Bayern und AC Mailand. Ballack bekam einen langen Ball in den Strafraum, scheiterte aber im Abschluss an einem Verteidiger. Die Szene war beendet, da lief von hinten Gattuso an, wischte dem sich umwendenden Ballack mit der Hand zehn Zentimeter vor dem Gesicht, der sich natürlich erschrocken gegen diesen unverschämten Einbruch in seine Intimsphäre wehrte und Gattuso wegschubste. Der fiel natürlich um wie vom Blitz gefällt und hielt sich irgendwas. Auch hier, kein Foul, keine Karte, nichts. Nicht mal eine Ermahnung gegenüber Gattuso, solche Provokationen zu unterlassen und vor allem solche miesen Schauspieleinlagen.
Der Fernsehbeweis ist da!
Tja, wo wir am Ende nochmals bei der FIFA angelangt wären. So traurig, aber berechtigt die rote Karte für den Göttlichen im Finale war, der Weltfußballbestimmer hat sich leider völlig unglaubwürdig gemacht. Der Schiedsrichter hat es nicht gesehen, die Linienrichter auch nicht. Der vierte Schiedsrichter beteuerte zwar hoch und heilig, er habe es mit eigenen Augen gesehen - das musste er auch, sonst wäre er seinen Job los. Doch alle wussten, dass er es vor einem dieser vielen Fernsehschirme in der Zeitlupe gesehen und weitergemeldet hat.
Das ist aber nun genau das, wogegen sich die Fußball-Mafia nach wie vor mit Zähnen und Klauen wehrt, nämlich den Fernsehbeweis auf dem Spielfeld. Im Nachhinein, ja, da gilt er, da hätte man Zidane bestrafen müssen. Doch niemand hat es gesehen. Genauso gut hätte man also auch den Provokateur für seine Sprüche, die niemand gehört hat, bestrafen können. Wenn Fernsehbeweis, dann richtig. Doch die Herren von der Fußball-Mafia kennen das Dilemma nur zu genau. Denn dann wird jede Abseitsentscheidung angreifbar - die Regel, welche modernen Spitzenfußball bestimmt - und häufig unattraktiv macht.
Das FIFA-Standgericht
Doch wenn wir bei den Fernsehbeweisen, bei Kopfstößen und Tätlichkeiten sind: Warum wurde dann eigentlich der Kopfstoß von Luis Figo im Achtelfinale gegen Holland nicht geahndet? Dafür aber ein vermeintlicher Fausthieb von Frings nach dem Viertelfinale gegen Argentinien? Nach diesen tumultartigen Szenen wurde meines Wissens nur ein Argentinier bestraft, der gleich am Anfang einem deutschen Spieler in Richtung Weichteile trat. In der strittigen Frings-Szene war aber ein Argentinier zu sehen, der nach spektakulärem Anlauf einem deutschen Spieler eine üble Kopfnuss verpasst. Was ist denn aus diesem Spieler und dieser Szene geworden?
Nein, liebe FIFA, hier wurde nicht mit dem gleichen Maß gemessen. Und der Präzedenzfall im Finale konnte nur durch eine äußerst wacklige und unglaubwürdige Aussage der Betroffenen, der ja faktisch ein Abhängiger war, aufrecht erhalten werden. Geben Sie es doch ruhig zu, Zidane wurde nach den Fernsehaufnahmen vom Platz gestellt - und das zurecht. Nur, nach dem orthodoxen FIFA-Recht hätte der Schiedsrichter das eben nicht dürfen.
Ach ja, an anderer Stelle habe ich mich bereits über die Anmaßung der FIFA ausgelassen, eine Weltgerichtsbarkeit in Sachen Fußball zu etablieren, die bereits das Recht souveräner Staaten übersteigt. So fahre denn fort, lieber Fußball, bis zur nächsten WM oder EM oder zumindest dem Beginn der Gambrinus-Liga im Land der Einheimischen, in dem ich mich wieder befinde.
Übrigens, ist dort in meiner Wahrnehmung ein neuer Spieler aufgetaucht, der den Künstlernamen Gaúcho trägt. Und nun raten Sie mal, woher er stammt. Nein, falsch, sondern aus Brasilien. Ist das nicht wirklich ulkig?
So long, bis dann, à bientôt, zatím und was es in den unterschiedlichen bisher benutzten Sprachen sonst noch für Grüße gibt.
Ihr deutscher WM-Beobachter in Prag