Letzte Woche von Putins familienfreundlicher Weh Emm, Frankreich spielt gegen Belgien im Halbfinale, das wird vielleicht das beste Spiel des Turniers, denke ich im Vohinein. Nach einem Tag voller Hektik, Terminstress und dergleichen schaffe ich es pünktlich zum Anpfiff vor den Computer und schaue mir in aller Ruhe das Spiel an, bei dem mich das Kind nur gelegentlich stört. Belgien spielt überraschend spielbestimmend und dominiert. Ob das die richtige Taktik für die schnellste Kontermannschaft des Turniers ist, frage ich mich. Durch Frankreichs Verteidigungslinie ist aber auch wirklich kaum ein Durchkommen, das Land hat wahrscheinlich von dem Fiasko der Maginot-Linie gelernt. Frankreich macht nach einem Eckball ein Kopfballtor durch den Verteidiger Varane, das reicht. Belgien hat nur zwei, drei aussichtsreiche Möglichkeiten, einmal Fellaini mit dem Kopf, doch das wars. Am Ende fällt den Mannen um den diesmal blassen de Bruyne und den völlig aus dem Spiel genommenen Lukaku nichts mehr ein, Frankreich zieht ins Endspiel ein und rettet damit die folgenden fünf Tage Franzosenmarkt auf der Prager Insel Kampa.
Franzosenmarkt auf der Kampa
Nun, dort werde ich viele Stunden verbringen und arbeiten, kundenfreundlich kurze Beratungsgespräche in unterschiedlichen mir zugänglichen Sprachen führen und entsprechend mehr oder weniger ausgereifte Milchprodukte an die Frau oder den Mann bringen. Gleich zu Beginn stelle ich die entscheidende Frage, wird man hier am Sonntag das Finale sehen? Am ersten Abend sehe ich dafür günstige Anzeichen, ein Verkäufer gegorenen Traubensaftes stellt hinter seinen Stand ein Fernsehgerät auf und studiert den Endspielgegner. In einem freien Augenblick stelle ich mich dazu und schaue die letzten zehn Minuten der ersten Hälfte. England führt gegen Kroatien 1:0, ich kann in dem Spiel keine Anzeichen entdecken, dass sich an der Tendenz noch groß was ändern sollte, Finale England gegen Frankreich, so ein Käse.
Dennoch stelle ich meine verkaufsfördernden Aktivitäten daraufhin ein. Auf dem Weg zur Punk-Kneipe – in Freds Bar vermute ich die Engländer – denke ich über Loyalitäten bezüglich der Co-Heimat meines Kindes nach. Fühle ich irgendeine Verbundenheit? Meine Lebensgefährtin interessiert sich ja nicht für Fußball und behauptet, dass ihr das Treiben in Russland schnurzpiepegal ist. Von dieser Seite gibt es reichlich wenig Ansporn, meinen emotionalen Haushalt an das Gelingen oder Misslingen gut bezahlter Fußarbeiter zu knüpfen. Nun, ich komme zwar zu keinem Ergebnis, doch ungefähr in der 55. Minute vor den Bildschirm der Punk-Kneipe, die erfreulich Engländer-frei ist. Nun, ich nehme auf einem Barhocker Platz und verlange Gerstensaft, um den Nachgeschmack der fermentierten Milchprodukte, die auch ich in sehr kleinen, aber dafür steten Portionen zu mir genommen habe, runterzuspülen. Das ist die Initialzündung für das kroatische Team, um meiner emotionalen Indifferenz abzuhelfen. Kurz gesagt, sie spielen England an die Wand, was zwar so nicht ganz stimmt, aber ich klatsche des öfteren mit der flachen Hand an eine solche. Beim Ausgleich springe ich auf, eine Frau an der Theke fragt zur Sicherheit nach, ob ich Kroatien unterstütze. Ich bejahe spontan und sie stimmt ein, sie auch. Weil sie aus Polen stammt. Weil das polnische Team schon lange zu Hause oder im Urlaub ist. Aha, interessant das zu erfahren.
Unterstützung sogar aus Polen
Weiter im Spiel, das mich an eine Diskussion mit einem meiner Kunden erinnert. Die Spieler sollten auf Bolzplätzen heranwachsen, behauptet er. Dort lernt man die echte Liebe zum Spiel, denn das sei es doch noch immer. Ohne diese echte Liebe verkomme der Sport mit den 22 Männern in kurzen Hosen zu Arbeit. Wir reden auch über Deutschland, ich erzähle ihm, das Jonas Hector wohl der einzige Spieler im deutschen Kader ist, der nicht von einer Fußballakademie stammt. Wie es bei England aussieht, weiß ich nicht, dem Spiel nach tippe ich eher darauf, dass alle bestens ausgebildete Fußballer sind, die ihre taktischen Aufgaben pflichtgetreu erfüllen. Nur leider – und das ist zu sehen – geht dabei die Kreativität und Spontaneität verloren, außerdem fehlt ganz einfach das Herz, um den mit Leidenschaft spielenden Kroaten zu widerstehen. Denn die bleiben am Drücker, obwohl sie zum dritten Mal hintereinander in die Verlängerung müssen. Selbst nach dem Führungstor stellen sie sich nicht hinten rein. Die kroatischen Spieler machen ganz einfach manchmal Dinge, die kein Akademieabsolvent vorhersehen kann. Die Kneipe füllt sich – erstaunlich für einen Mittwochabend – meine Emotionen schlagen hoch, ich verteidige jedoch meinen Hockerplatz wie ein Löwe. Die Thekenkraft kassiert jedes Getränk gleich ab, so werde ich alle Münzen los, die ich vom Franzosenmarkt noch in der Tasche habe. Ein arg im Sprechen und Denken paralysierter Kneipengast tritt in den letzten Minuten zu mir und wiederholt mantrahaft den Satz „to je síla“. Ich lasse das jetzt mal so stehen, bei der etwa dreiundfünfzigsten Wiederholung erschließt sich die Bedeutung des Mantras auch ohne Tschechischkenntnisse.
Nach 28 Jahren wieder im kleinen Finale
Nun, es geht gut und Kroatien schafft es bis ins Finale. Ich verlasse die Punk-Kneipe und mache noch einen Abstecher in Silwias Bar, um die Stimmung in ihrem Balkan-Pfuhl zu testen. Auf dem Weg begegnen mir zwei Bekannte, ein Amerikaner und ein Ire, die gerade Freds Bar verlassen und sich ebenfalls zu Silwia begeben. „Geh besser nicht in Freds Bar, die Stimmung ist wirkich mies“, warnen sie mich. Hatte ich auch nicht vor, denke ich, ich kann mir gut vorstellen, wie sich die Engländer fühlen. Nach 28 Jahren mal wieder im Weh Emm Halbfinale, zum ersten Mal sogar ein Elfmeterschießen gewonnen und dann das. Boris Johnson tritt zwei Tage vor dem wichtigen Spiel als Außenminister zurück, genau wie der Brexit-Minister oder Beauftragte oder welchen Titel der auch immer trägt. Dieselbe Sch... wie bei der Eh Emm 2016, das Referendum einen Tag vor dem k.o.-Spiel gegen Island. Johnson, damals schon einer der politischen Spießgesellen und zurückgetreten, fordert einen harten Brexit. Den hat er dann auch bekommen, diesmal bei der zur Eh Emm geschrumpften Weh Emm. Im kleinen Finale verliert England auch noch gegen Belgien und die Bilanz ist durchaus durchwachsen. Sieben Spiele, drei Siege (gegen Tunesien, Panama und Schweden), drei Niederlagen (zwei Mal gegen Belgien und ein Mal gegen Kroatien), dazu ein nominelles Unentschieden gegen Kolumbien. Immerhin stellt die Mannschaft mit Harry Kane den besten Toschützen, der zwar einen Standardwert von sechs Einschüssen verbucht, allerdings waren darunter drei Elfmeter. Die muss man ja auch erst mal reinmachen, ist schon klar, aber als es darauf ankommt, trifft er nix.
Gute Stimmung im Balkanpfuhl
Gehen wir lieber in Silwias Kneipe, wo mächtig Stimmung herrscht, zumindest unter den fußballinteressierten Gästen. Ich schließe mich für ein halbes Stündchen an, doch der folgende Arbeitstag verlangt sein Tribut. Zu Hause informiere ich MM über den Finaleinzug, sie gibt sich aber gleichgültig. So, danach ist zwei Tage Fußballpause, die ich auf der Prager Insel Kampa verbringe und mit meinem üblichen Terminstress in Sachen Sprachenvergleich. Das kleine Finale verpasse ich komplett, nach getaner Arbeit erfahre ich in der Punk-Kneipe das mutmaßlich Ergebnis vom Barmann, der dafür seine Hand aber nicht ins Feuer legen will, denn er konnte sich dem Nachmittagsspiel nicht widmen.
So, da kommt der Sonntag, Endspieltag. Ich komme spät zur Insel Kampa, denn ich muss noch eine Deadline einhalten. Es ist aber noch Zeit vor dem Endspiel und erstaunlich ruhig. Für den späteren Weltmeistertitel bezahlen die Standbesitzer der kulinarischen Spezialitäten mit erheblichen Umsatzeinbußen. Es läuft die Vermutung herum, dass viele potentielle Gäste das Fußballereignis eher meiden, doch die Betreiber nehmen das billigend in Kauf. Zwei Fernseher werden aufgestellt, einer auf der kleinen Bühne, wo sich kleine Bands abwechseln, einer wiederum wieder hinter dem Traubensaftstand, eigentlich gleich gegenüber. Wie man das kennt, schmettern die Franzosen ihre Nationalhymne, dieses blutrünstige Revolutionslied, benannt nach einer Hafenstadt im Süden des Landes. Ansonsten ist es zunächst aber eher ruhig, die Kundenberatungstätigkeit versiegt nahezu vollkommen. Ich frage herum, ob denn da nichts los sei in Moskau, das Napoleon Bonaparte – noch so ein Politiker von einer Insel – vor mehr als 200 Jahren so lustig abgebrannt hat. Ein Jubelaufschrei verrät mir das Ergebnis, Frankreich muss ein Tor geschossen haben. Viel später erfahre ich dann, dass es kein Franzose war, sondern ein Kroate, jedoch für Frankreich. Ich höre noch hier und da ein kollektives Ächzen und Stöhnen, hinter dem ich vergebene Chancen vermute, jedoch keine weiteren Tore. Ein Kollege mit online-Zugang gibt den Zwischenstand durch, einseins.
Die Hand im Spiel
Nun begebe ich mich doch zur kleineren Gruppe vor den Bildschirm und bekomme die Schlüsselszene des Spieles mit, nämlich ein Handspiel im Strafraum. Das hat niemand mitbekommen, nicht einmal der Schiedsrichter, der über Funk darüber aufgeklärt wird, sich mal zum mobilen Videozentrum an der Seitenlinie zu begeben. Ein aufgeregter Fan beschwört den Entscheidungsträger in Sachen Regeleinhaltung von Prag aus, dieses Handspiel nicht durchgehen zu lassen. Und das in einer Intensität, dass man selbst ohne Französischkenntnisse dem zwingend logischen Gedankengang Recht geben muss, selbst wenn man etliche hundert Werst entfernt seinem Richterhandwerk nachgeht. Ich fürchte bereits um die Stimme des erregten Logikers, dann sind wir erlöst, Elfmeter. Griezmann, den die Franzosen so aussprechen, wie man ihn schreibt, und nicht so, wie der Spieler selbst es möchte, verlädt den Torwart und Frankreich liegt wieder in Führung. Ich schaue eher lustlos den Rest der ersten Halbzeit, dann kommen MM und das Kind mich besuchen. Wir versuchen einen Platz zum Schauen zu ergattern, das ist aber von keiner Position aus richtig möglich. Während wir noch Suchen, brandet wieder ein kollektiver Jubel auf, es ist klar, was passiert. Ich schaue trotzdem die Wiederholung mit Kind auf dem Arm und aus ungünstiger Position, sah nicht ganz unhaltbar aus. MM geht einfach weiter und versteht gar nicht, wo ich bleibe. Dann ziehen wir uns etwas vom sportbegeisterten Geschehen zurück, wieder ein kollektiver Jubelschrei, ich fürchte bereits, dass MMs mittlerweile miese Laune in Aggression umschlägt und rede über das schwüle Wetter und die Wahrscheinlichkeit eines einsetzenden Regens. Die Franzosen singen wieder ihr Lieblingslied aus der Hafenstadt, MM beschimpft sie kollektiv als Faschisten und geht dann zu einem Bildschirm. Ich möchte sie davon abhalten, doch sie kommt nach bangen Minuten wieder, vierzuzwei sagt sie. Ich benötige all meine Überredungskünste, um sie vom Markt und von der Insel zu entfernen, bevor der kollektive Wahnsinn auf französisch ausbricht. Mit Mühe gelingt mir das, doch dann ist es so weit, kleine Grüppchen junger Menschen laufen mit einer Fähnchenschnur, die ursprünglich als Dekoration gedient hat, mehrmals um den Platz. Der Besitzer des Standes, an dem ich meiner Beschäftigung nachgehe, schaut ab und zu in zunehmend bedenklicheren Zustand herein, ab 20 Uhr rechnen wir anderen eigentlich mit dem Ende der Beratungstätigkeiten, doch in dieser Masseneuphorie zieht sich das locker noch ein, zwei Stunden hin. Die Krux ist, dass ich nüchtern bleiben muss, denn ich habe diesmal Fahrdienst, außerdem ist Abbautag. Auch das zieht sich hin, so dass ich mit zunehmender Apathie dem Fahrzeug noch einen kleinen Schaden zufüge und erst kurz nach eins in die Punk-Kneipe komme, um den bitteren Geschmack des gesamten Tages herunterzuspülen. Ich plane eigentlich nur eine Stunde zu bleiben, doch dann wiederholen sie im Fernsehen das Endspiel und ich schaue das Spektakel bis zur 73. Minute, den Schluss schenke ich mir, Tore fallen ja keine mehr und am Ende dürfte den Kroaten einfach die Kraft ausgegangen sein, um dieses Ding noch umzubiegen.
Überraschung zu Hause
Dank den Kroaten, denn ihr mutiges Spiel nach vorne hat den Zuschauern dieses seit vielen Weh Emms ansehnlichste Finale erst beschert. Sie hätten wie Frankreich auch erst einmal abwarten können, was der Gegner macht, taktisch diszipliniert, geduldig auf die eine Situation wartend, die vielleicht das ganze Turnier entscheidet. Sie haben darauf verzichtet und ihr Herz in die Hand genommen, zusätzlich haben sie Frankreich durch ein Eigentor (einsnull) und den bereits beschriebenen Elfmeter kräftig in den Sattel geholfen. Das Handspiel war sowohl unnötig als auch unabsichtlich und die Entscheidung reichlich hart. Dann sieht der Torwart bei beiden Gegentoren in der zweiten Hälfte reichlich bedeppert aus, das wiegt auch der umgehende grobe Torwartfehler des französischen Tormanns nicht auf. Zu Hause erwartet mich noch eine Überraschung, bei MM im Zimmer brennt noch Licht. Ich schließe die Wohnungstür auf, wo MM den Schlüssel hat stecken lassen, den ich zum Glück herausdrücken kann. Kaum in der Eingangshalle, geht sie auf mich los und versetzt mir eine Ohrfeige. Zum Glück halte ich mich im Zaum, sonst wäre das ausgeartet, besonders bei diesem schwülen Wetter. Ich bin hundemüde und denke mit Schrecken an die Uhrzeit, die mir nur noch drei Stunden Schlaf gönnt.