Prag - Was so ein fußballfreier Tag alles bewirkt. Ich wache samstags früh auf, bin aber dennoch ausgeschlafen. Dann mache ich mich singend und pfeifend an die Arbeit, bearbeite einen Wäscherest glättungstechnisch, sorge in der Waschmaschine gleich für Nachschub, beziehe mein Bett frisch, räume den Bücherstapel auf meinem Bettbeistelltisch auf, putze gleich mal und entdecke, dass Fliegenkadaver nicht so recht verwesen. Dermaßen in Fahrt gekommen, mache ich in anderen Zimmern weiter, bis ich im Badezimmer das Tüpfelchen aufs i setze, sogar das Waschbecken glänzt jetzt wieder. Anschließend ist mein Körper dran und zieht seine Bahn durch den Park. Drei Wochen lang habe ich mit dem Joggen ausgesetzt, in der WM-Vorbereitung bin ich in einem Loch im Kunstrasen umgeknickt und habe mir die Bänder gedehnt. Ich hatte das WM-Aus vor Augen, mir wird heute noch mulmig, wenn ich an die beiden dumpfen Knackgeräusche denke, die meine Bänder da von sich gegeben haben. (Wie sie das gemacht haben, kann ich mir bis heute nicht erklären.) Hinzu kam in der vergangenen Woche noch ein Zwicken in der Leiste, das sich durch die Kniekehle bis zur Wade hinunterzog. Meine Laufeinheit bestätigt mir aber, es ist alles heil. Es ist aber auch etwas schwül und ich muss mich anstrengen, die Trainingseinheit ordentlich zu beenden. Nach dem Essen leiste ich mir noch ein Energie-Nickerchen und es geht in den Rieger-Park.
Rot-gelber Sangeswettstreit
Später am Abend, in Tobi’s Bar, lasse ich die Spiele und die Vorrunde mit einem irischen Bekannten Revue passieren. Früher, so meint mein Freund, hatten die Brasilianer Künstlernamen wie Socrates, heute heißen sie wie amerikanische Bauarbeiter, etwa Fred.
Vor der Leinwand sitzt dort eine zahlreiche brasilianische Kolonie, erkennbar am Tragen von Nationalmannschaftstrikots und Fahnen. Ein Stück dahinter sitzt ein chilenisches Trüppchen, beide Parteien liefern sich einen friedlichen Sangeswettbewerb. Ich finde meinen Stammplatz unter der knorrigen Linde, zu mir gesellt sich ein Häuflein junger Chilenen. Ich stelle fest, dass es auch in Südamerika zierliche Blondinen gibt, doch die Gesichtszüge verraten die Prise Exotik. Nun gut, dann wird Fußball gearbeitet, anders kann man das brasilianische Spiel nicht bezeichnen. Die Mannschaft um Luis Gustavo, in der Bundesliga groß herausgekommen bei der Spielvereinigung 1899 Hoffenheim, nach dem Wechsel zu Bayern München zum Ergänzungsspieler zusammengeschrumpft und mittlerweile zum Volkswagen für L... (mir fällt gerade nichts ein) Wolfsburg weitergereicht, wo er in der kommenden Saison in der Europa-League mitspielen kann. Daran ist auch überhaupt nichts verkehrt, Gott bewahre, wann aber hatte es das brasilianische Team jemals nötig, sich um einen solchen Spieler zu scharen? 1994, genau, da hieß der Gustavo Carlos Dunga und spielte beim Verein für Bewegungsspiele Stuttgart. Später am Abend, in Tobi’s Bar, lasse ich die Spiele und die Vorrunde mit einem irischen Bekannten Revue passieren. Früher, so meint mein Freund, hatten die Brasilianer Künstlernamen wie Socrates, heute heißen sie wie amerikanische Bauarbeiter, etwa Fred. Sehr treffend bemerkt.
Ecke, Kopfballverlängerung, Tor
Brasilien geht nach einem Eckball in Führung, Flanke an den ersten Pfosten, Kopfballverlängerung an den zweiten Pfosten und dort halten zwei Spieler das Bein rein, drückt ihn der Chilene oder der Brasilianer über die Linie, ich kann mich nicht recht entscheiden. Vor und nach dieser Szene machen beide Mannschaften in gnadenlos geführten Zweikämpfen klar, wie ihre Einstellung zum Machismus aussieht, keine Seite bleibt der anderen etwas schuldig.
Schwächen bei der Ballannahme
Dem Ausgleich geht eine Szene voraus, die ich in meinem ganzen Leben nicht für möglich gehalten hätte. Ein simpler Einwurf, Marcello wirft den Ball ganz locker zu einem Abwehrkollegen, dem unbedrängt der Ball vom Fuß springt. Ja, besteht denn diese Mannschaft neuerdings nicht nur aus Fußballarbeitern, sondern auch noch aus Rumpelfüßlern? Das Land ist im Umbruch, das haben die Demonstrationen vor der WM bewiesen, doch der brasilianische Fußball seiner ihm ureigenen Stärken beraubt? Ein Chilene nimmt den Ball dankend ab, spielt ihn in den Strafraum, wo sein Stürmerkollege auch noch genügend Zeit hat, ihn mitzunehmen und flach im langen Eck unterzubringen. Die drei Chilenen neben mir unter der knorrigen Linde jubeln, leider ist mein Südamerikanisch immer noch defizitär, außer einigen saftigen mierdas und puttas di madres erkenne ich nur die Redeabsicht. Brasilien schaltet gleich um, der Fanblock vor der Leinwand feuert wiederum die Kanariengelben an. So geht es dann noch zwei Stunden weiter, wobei man merkt, dass das Spiel Kraft kostet und die Ausbrüche von Fangesang spärlicher werden. Hulk schießt noch ein Tor, der aber sehr souverän leitende englische Schiedsrichter entscheidet auf Handspiel bei der Ballannahme. Um mich herum höre ich immer mehr Fremdsprachen, Deutsche unterhalten sich über Politik, ich schnappe Wortfetzen wie Europa, Regulierung, Territorium und bin mal gespannt auf. Ein Kanadier versucht mit den beiden mitfiebernden Chileninnen ins Gespräch zu kommen, unpassenderweise trägt er ein Trikot von Messi und einen brasilianischen Schal. Deutlicher kann man gar nicht zeigen, dass man überhaupt keine Ahnung vom Fußball hat. Dann bedauert er, kein Spanisch zu können, behauptet jedoch, neben Englisch und Französisch Deutsch zu sprechen. „German is a strong language.“ Wie diese Aussage zu verstehen ist, ist mir völlig schleierhaft, oder ist es einfach nur die wortwörtliche Übersetzung eines potentiellen Werbeslogans des Goethe-Instituts, eh Mann, deutsch ist echt stark. Die Tschechen hinter mir reden mal wieder alles Große klein, willkommen im Klischee-Park Riegerové sady. Dann gibt’s Verlängerung, Brasilien ist einen Tick besser als Chile, Neymar kann es aber diesmal alleine nicht richten. Chile hat dann kurz vor Schluss Pech, als ein Spieler bei einem der spärlichen Konter krachend die Latte trifft. Also erhalten wir Zuschlag in Form von Elfmeterschießen.
Elfmetergestümper
Suarez ist erwartungsgemäß gesperrt, man sollte sich überlegen, ihm einen speziellen Maulkorb für Fußballspieler anzufertigen, der dann zu seinem Markenzeichen werden kann, so wie der Helm für Petr Čech. Damit wären allen geholfen, dem Spieler, dem Gegner, dem Fußball, nur eben nicht Suarez’ Zahnarzt.
Ich denke so zurück und kann mich nicht daran erinnern, dass ich Brasilien jemals habe ein Elfmeterschießen verlieren sehen. Das tun sie auch diesmal nicht, obwohl beide Seiten zu 50 % Ausschuss produzieren. Chile ist leider ausgeschieden, letztlich an den eigenen Nerven und dem Quäntchen Glück gescheitert.
Eine Stunde später, ich habe mich zwischenzeitlich mit einem Dürüm-Döner gestärkt, ja, auch das gibt es mittlerweile in Prag. Doch an der Einfalttechnik müssen die Betreiber dringend arbeiten, natürlich ist mir die Sauce irgendwann auf die Hose getropft, gerade erst frisch angezogen, ärgerlich das. Also, eine Stunde später beginnt das zweite Halbfinale der kleinen Südamerikameisterschaft, gesucht wird der Finalgegner von Brasilien zwischen Kolumbien und Uruguay. Ich bin überrascht, wie groß die kolumbianische Kolonie in Prag ist, Uruguayer kann ich zunächst überhaupt nicht entdecken. Die Zweikämpfe werden noch härter geführt als diejenigen im ersten Spiel, das war von Uruguay nicht anders zu erwarten. Suarez ist erwartungsgemäß gesperrt, man sollte sich überlegen, ihm einen speziellen Maulkorb für Fußballspieler anzufertigen, der dann zu seinem Markenzeichen werden kann, so wie der Helm für Petr Čech. Damit wären allen geholfen, dem Spieler, dem Gegner, dem Fußball, nur eben nicht Suarez’ Zahnarzt. Statt seiner läuft Diego Forlan auf und wird erst auffällig, als er wieder ausgewechselt wird. Er ist nur noch ein Schatten der WM 2010, wo er zu Recht zum besten Spieler des Turniers gewählt wurde. Seine beiden diesjährigen WM-Auftritte hätte er sich getrost sparen können.
Kolumbien-Rodriguez doppelt
Der kolumbische Rodriguez macht zwei schöne Tore, Nummer eins nach gekonnter Ballannahme mit der Brust mit Rücken zum Tor, volley schießt er aus der direkten Drehung unter die Latte, da gibt es wirklich nichts zu bemängeln, bekritteln oder verbessern, Haltungsnote sechs Komma Null. Zur zweiten Hälfte wechsle ich auf den anderen Flügel, die falsche Fanfreude der Tschechen und betrunkenen Briten vertreibt mich, ich möchte während des Spiels wirklich nicht wissen, welches die Pläne des Stadionausbaus in Brünn sind und was das für den Verein, der früher Boby hieß, irgendwann FC und auch Baumax bedeutet und dass auch Slavia Nazi-Fans hat, die Hejla auf ihre T-Shirts schreiben.
Das Spiel bleibt sich gleich, Kolumbien-Rodriguez Tor Nummer zwei geht eine schöne Stafette voraus, Seitenwechsel vor dem Strafraum, Flanke an den langen Pfosten, Kopfballrückpass an die Fünfmeterlinie, freie Schussbahn, die Entscheidung. Uruguay bäumt sich zwar noch mal auf, doch es fehlt das berühmten Quäntchen Glück, das diese Mannschaft aber auch nicht verdient hat. Kurz vor Schluss läuft eine Frau zwischen der Menge aus dem Park und ruft in den Jubel der Kolumbianer Mafia, Mafia. Ein, zwei Leute schauen etwas bedröpst, das möchte man sich auch nicht ständig sagen lassen, dass es in der Heimat erhebliche Probleme mit der organisierten Kriminalität gibt, die ja nur die Gier des weißen Mannes bedient, komprimiert in Form eines weißen Pülverchens. Ganz am Ende sehe ich zwei Uruguayer traurig das Turnier, also den Biergarten verlassen. Kolumbien zieht hingegen ins Finale der kleinen Südamerikameisterschaft ein, in dem der Halbfinalgegner von Deutschland ausgespielt wird. Vom ersten Teil dieser Behauptung bin ich felsenfest überzeugt, der zweite Teil ist vielleicht nur auf Sandstein gebaut.
Gerd Lemke