Montagabend, die Aufholjagd ist vollendet und der hiesige Chronist der Eh-Em 2024 hat den Anschluss an die Gegenwart geschafft. Das ist auch bitter nötig, denn dann spielt Frankreich mit Sprint-Superstar Mbappé, dem hinterherzuhecheln ein schier aussichtsloses Unterfangen darstellt. Der pfeilschnelle Franzose hat ja Interesse bekundet, auch an den Olympischen Spielen in seiner Heimatstadt teilzunehmen. Doch sein zukünftiger Brötchengeber will das nicht zulassen, nicht einmal auf den 100m flach ohne Ball, Gegenspieler und Stollen am Fuß. Mein Gott, ihr Königlichen aus Madrid, das wäre nun wirklich kein Problem. Mbappé sprintet ein paar Mal, dekoriert seinen Hals mit Edelmetall und ist noch vor dem Zapfenstreich wieder im Trainingslager zurück. Ich finde das nun echt kleinlich.
Deschamps-Fußball
Ach ja, da ist ja auch noch das Fußballspiel, bei dem es mich nirgends anders hin verschlägt als auf mein Allzwecksitzmöbel vor die Allzweckmaschine namens Laptop. Am Anfang ist meine Aufmerksamkeitsspanne am höchsten und baut mit zunehmender Spieldauer ab. Ich frage mich gegen Ende sogar, ob sich das Zusehen noch lohnt. Ähnlich wie das England-Spiel vom Vortag versandet der Spielfluss im Unwillen auf der anderen und Unvermögen auf der einen Seite. Kaum ein enger Zweikampf geht ungepfiffen durch. Letztendlich entscheidet ein unglückliches Eigentor und der Titelfavorit beginnt das Turnier mit einem Sieg.
Duchamp-Kunst
Ja, so ist er, der Deschamps-Fußball, so war er auch schon als Spieler. Wenig Genuss für den neutralen Zuschauer, reine Zweckmäßigkeit und Erfolgsorientierung. Vorne stehen ein paar Fummel- und Sprintkönige, die irgendetwas Zählbares rausholen, hinten steht eine geballte Defensivathletik, gegen die es für einen Gegner wie Österreich kein wirkliches Durchkommen, nur ein stures Anrennen gibt. Fußball wie das Pissoir des beinah Namensvetters Marcel Duchamp. Das schaut man sich einmal an und hat es begriffen. Solche Kunst hängt sich keiner in sein Wohnzimmer. Niemand stellt sich stundenlang ins Museum und betrachtet es von allen Seiten. Oder können Sie sich vorstellen, dass jemand extra früh ins Museum geht, um den Schwung des Schattenwurfs der Pissoirrundung auf die Abrinnlöcher kurz nach Sonnenaufgang mit dem weicheren Licht am Abend zu vergleichen, und befriedigt feststellt, dass die Urinmuschel am Nachmittag einen fast schon kühn zu nennenden Spiegelungswinkel erreicht, in dem das Lächeln der Mona Lisa ausgesprochen frivol reflektiert würde? Das als Kunst deklarierte Pissoir reicht eigentlich nur für einen Schenkelklopfer, doch die Wirkung auf den Fortgang des Kunstgeschehens war natürlich frappant. Ohne das Urinal keine Fettecke von Beuys, wage ich zu behaupten. Die würde ich mir übrigens auch nicht ins Wohnzimmer hängen, nicht mal geschenkt.
Kinder und moderne Kunst
Mit der modernen Kunst ist es ja sowieso so eine Sache. Vor ein paar Wochen nahm ich meine Tochter mal mit auf eine Vernissage (sie hätte damals noch in der F-Jugend spielen können). Der mir persönlich bekannte Galerist fragte sie mit erwartungsvollen Augen, wie ihr denn die Bilder gefielen? Sie antwortete etwas wie „čmáranice“, was ich getrost mit „Schmiererei“ übersetzen darf.
„Ach du hast ja noch keine Ahnung! Das ist doch ein akademischer Maler!“, entrüstete sich der Galerist und wandte sich schroff ab. Nun stelle man sich vor, ich würde meiner Tochter auch noch das Duchamp-Pissoir zumuten und sie fragen, wie ihr das gefalle... So ist es auch besser, dass ihr zartes Pflänzchen des Fußballinteresses nicht mit Deschamps-Fußball (übersetzt übrigens: von den Feldern) gedüngt wird und sie beim Abendspiel altersgerecht im Bett liegt und schläft. Wohin ich mich nach Abpfiff übrigens auch zügig begebe (natürlich in mein eigenes).
Zu müde für das Abendspiel?
Am folgenden Tag bangt ganz Frankreich angeblich um Mbappés Nase, die er sich gegen Ende des Spiels blutig an der Schulter eines kantigen GegenspielerS gestoßen hat. Ich hingegen rede mit meinem Studenten über Jahreskartenpreise des FK Hradec Králové und dessen Transferperspektiven. Die Stadt ist als Königgrätz in der Geschichte zum Austragungsort einer grausamen Schlacht zwischen den Preußen und Österreichern bekannt geworden, worauf Bertha von Suttner die Friedensbewegung gegründet hat. Wir einigen uns auch darauf, dass das schottische Foul an Gündogan zurecht mit glatt Rot bestraft wurde. „Vor 30 Jahren war das gang und gäbe“, höre ich, „Roy Kean hat so den Vater von Haaland bearbeitet.“ Die Schotten spielen also den Fußball von vor 30 Jahren, schließe ich daraus, so hat das dann auch ausgesehen.
Bei den Aussichten für das tschechische Team landet mein Gesprächspartner in der Vergangenheit. „1996, war da der Nedvěd schon bei Lazio? Šmicer hat da noch bei Slavia gespielt und Poborský noch in der tschechischen Liga.“ Ich lasse die Vermutungen ungeprüft, halte mit meiner Meinung aber hinter dem Berg. Schließlich basierte der Erfolg 1996 auf 90% Antifußball und einigen lichten Momenten. Ausgerechnet im Endspiel gegen Deutschland sah das besser aus, doch das Spiel ging wegen Oliver Bierhoff verloren. Noch so ein anti-Fußballer, denke ich, der den Fußball nie geliebt hat, vor allem nicht als Funktionär. „2004, das war eine Mannschaft, bei welchen Vereinen die Spieler das gespielt haben! Und heute? Nein, ich schaue mir das Spiel gar nicht an. Ich habe viel zu arbeiten und stehe früh auf. Es ist besser, um neun Uhr schlafen zu gehen.“ Ich appelliere vehement ein das nationale Gewissen, „das geht nicht, du kannst doch nicht einfach ins Bett gehen, wenn Tschechien spielt“. „Na ja, vielleicht schaue ich die erste Halbzeit. Dann steht es 3:0 für Portugal und ich gehe ins Bett.“ Zum Abschied drücke ich fest die Hand, schaue streng in die Augen und ermahne nachdrücklich. „Schau das Spiel an!“
Freier Nachmittag
Ich empfinde ein großes Glück, als ich erfahre, dass es kein Nachmittagsspiel gibt. Ich habe frei! Und kann etwas für einen meiner drei Jobs machen, vielmehr für einen potentiellen vierten. Das will mir zwar nicht wirklich flott von der Hand gehen, doch ich beschließe, dass das reichen muss. Was gibt es eigentlich am Vorabend? Türkei – Georgien, zwar zögere ich zunächst, doch dann entscheide ich: Wer weiß, wie oft wir Georgien noch bei einer Eh-Em sehen können? Da soll ja so ein Mega-Mogul nach der absoluten Macht streben, nach dem Vorbild Russlands und der Junta im Kreml. Das Ergebnis wird eine georgische Diaspora sein, möglicherweise der Anschluss an den nördlichen Nachbarn oder ein Anschluss an den asiatischen Fußballverband. Nein, ich muss mir das anschauen.
Spektakel aus Klein-Asien
Und das geht dann gleich los wie die Feuerwehr, in beiden Strafräumen brennt's lichterloh. Schönes Tor der Türken, dann gleich noch eins, das Ding ist durch, denke ich. Der Video-Assi zieht unerbittlich seine digitale Linie und der vermeintliche Torschütze steht einen halben Fuß im Abseits. Kein Tor. Trotzdem wirkt Georgien erst angeschlagen, dann schlagen sie plötzlich zurück, all die -vilis, die mich an Kobyashvili, Iashvili, noch einen -vili und Tobias Willi in Freiburg erinnern. Das muss noch in der Ära Volker Finkes gewesen sein, als plötzlich drei Georgier in der Bundesliga auftauchten. Und hat nicht Dynamo Tiflis in den 1980er Jahren mal den Europapokal der Pokalsieger gegen Carl Zeiss Jena gewonnen? Ja, das waren noch Zeiten, als der Fußball viel langsamer gespielt und die Spiele viel seltener gezeigt wurden. Die goldenen Zeiten, als ein Kung-Fu Sprung von Harald „Toni“ Schumacher in seinen Gegenspieler kaum als Foul, geschweige denn als Platzverweis wahrgenommen wurde, und Goicochea (nicht der argentinische Torwart, sondern der baskische Verteidiger) zum Volkshelden aufstieg, nachdem er erst Diego Maradona, dann Bernd Schuster für Monate ins Verletztenlazarett getreten hatte.
Nur nicht einschlafen!
Die Gedanken schweifen ab und die Augen drohen mir trotz dem Hin- und Her zuzufallen, mit verschwommenem Blick sehe ich ich den Namen des türkischen Torschützen, Gerd Müller lese ich, nein, das kann nicht sein. Mert Mülür heißt er. Zum Glück vertreibt mir das Geschehen auf dem Platz die Müdigkeit, in der zweiten Hälfte entwickelt sich das bis dato spektakulärste Spiel des Turniers. Vergiss England, vergiss Frankreich, Türkei gegen Georgien ist das Highlight des Turniers. Reals Juwel Gülen bringt die Türkei wieder in Führung, mit einem herrlich Schuss aus gut 20 Metern. Gleich danach kann die Türkei erhöhen, doch wenige Zeigerumdrehungen später haben sich die Georgier den Ausgleich verdient, doch leider nur Latte. Willy „Halbfeldflanke“ Sagnol ist doch tatsächlich Trainer in Georgien und schickt neue Kräfte aufs Feld. Weitere Chancen wechseln hin und her. In der Nachspielzeit hat Georgien gleich zwei Mal den Ausgleich vor Augen, doch der Pfosten und ein Verteidigerkopf stehen im Weg. Der knapp zwei Meter große Torwart tummelt sich beim Eckballfeuerwerk vor dem Fünfer, aber der andere Torwart faustet den Ball aus der Gefahrenzone und ein Türke marschiert auf das verwaiste Tor, die Entscheidung. 3:1! Dem tschechischen Co-Kommentator rutscht bei diesen Leistungen das Herz aus der Hose in die Socken, ich bin sicher, dass die halbe fußballinteressierte Nation bereits auf Knödeln im Beinkleid hockt. Gegen diese Mannschaften müssen die Tschechen ja auch noch spielen! Nicht nur gegen Cristiano Ronaldo und seine Kumpane!
Sich selbst klein machen
Ja, da schaue ich mir tatsächlich das Süiel zu Hause an. Die Mutter meiner Tochter hat wieder einen Grund gefunden, rauszugehen (kein Saft im Haus), ich übersetze meiner Tochter das, dass ihre Mutter weg will. Sie hat ja wieder Tage lang mit vorgeblichen Halsschmerzen und sogar Fieber im Bett verbracht, nun ist wieder Zeit, das frisch erworbene Wohlergehen wieder zu ruinieren. Ich höre diesmal sogar die Nationalhymne und stelle fest, dass die portugiesische um einiges anspruchsvoller zu singen ist und man sie umso weniger von Fußballspielern intoniert hören möchte. Das Spiel an sich ist nichts besonderes, die Tschechen überlassen Portugal die Initiative. Portugal kommt zwar zu ein paar Torannäherungen, doch ich kann mich – im Gegensatz zu den Kommentatoren – des Eindrucks nicht erwehren, dass die Mannschaft ohne Ronaldo besser wäre. Der hat zwar seine Szenen, doch wirkt das auf mich gehemmt. Ich bin mir sicher, das portugiesische Spiel könnte ohne ihn flüssiger und schwerer auszurechnen sein. Wie alt ist er denn jetzt? 39? War er schon vor 20 Jahren dabei? Ich denke, ja, bei der Eh-Em in Portugal, doch damals wohl eher auf der Ersatzbank. Damals war noch Luis Figo der große Spieler. Man müsste mal Pepe fragen, der sollte das wissen, ist ja schließlich noch älter als CR7.
Was für eine Tragödie
Zweite Halbzeit, erst mal alles beim Alten. Ronaldo legt sich einen Freistoß zurecht – ich kann mich an kein einziges Spiel erinnern, in dem er einen Freistoß verwandelt hat – natürlich nichts. Hart auf's Tor geschossen, aber unplaziert, halbhoch dazu noch, da helfen nicht mal die Platzverhältnisse nach dem strömenden Regen. Und dann höre ich ihn, ich weiß nicht, woher er kommt, der Jubel, und dann sehe ich den Grund: Tschechien schießt ein Tor, nahezu aus dem Nichts. Wiederholt sich 1996? Ein paar Minuten später ist klar: Nein. Diesmal höre ich nichts, aber sehe, was den Zuschauern beim public viewing die Stimme verschlägt. Der tschechische Torwart hält gut, doch lenkt er den aufgesetzten Ball gegen das Bein des nachlaufenden Verteidigers. Ausgleich nach Eigentor. Na ja, denke ich, mit einem Unentschieden sind beide doch zufrieden. Doch es kommt in diesem Regenspiel noch zum Nackenschlag. In der Nachspielzeit kommt eine Flanke von links nach innen, der Verteidiger ist da, aber trifft den Ball nicht sauber, sondern stoppt ihn für den nachrückenden portugiesischen Stürmer, 2:1. Ein halbes Eigentor. Wie bitter. Aber noch ist nichts verloren, schließlich kommen die vier besten Gruppendritten auch weiter. Und damit schließe ich den ersten Gruppenspieltag ab, alle haben sich gezeigt und am folgenden Tag geht es einfach weiter. Wie Oliver Kahn einst sagte: Weiter, weiter, immer weiter.