Zwei Tage Spielpause geben Deutschland Zeit zur Neuordnung nach dem vorhersehbaren Ende der Ära Löw, die anfangs getrieben vom Reformeifer Jürgen Klinsmanns den deutschen Fußball revolutionierte, dann aber von Flick verlassen in einen Reformstau überging, der nach einer katastrophalen WM 2018 in pseudo-Aktionismus mündete, in Wirklichkeit aber unfähig war, nachhaltig etwas zu ändern. Nun kommt Flick zurück, der als Trainer von Deutschlands Vorzeigeclub B. München in Rekordzeit gewonnen hat, wozu anderen eineinhalb Jahrzehnte nicht ausreichen. Löw war ein Mann mit Visionen und einem pädagogischen Reformansatz, ob seine Ideen originell waren, ist dabei nicht wichtig. Er war aber auch ein Mann, der keinen zweiten Reformansatz zustande brachte, und der Stil seiner Mannschaft wirkte am Ende merkwürdig antiquiert. Oder um es polemischer auszudrücken: Nachdem das Original, der Tiki Taka, entschlüsselt und entzaubert worden war, hatte der Weltfußball auch mit dem Plagiat, dem deutschen Ballbesitzfußball, keine Probleme mehr, um so mehr ihm das geeignete Personal für diesen Spielstil abhanden kam. Bezeichnend, dass in dieser EM vor allem die als überwunden geglaubten deutschen Tugenden, der Kampfgeist und die Beharrlichkeit, gelobt wurden, nicht aber irgendwelcher spielerischer Esprit. Dem Aufstieg in den Himmel von Rio folgte ein zunächst langsamer, dann aber rasanter Niedergang, dessen Absturz ein glückliches Unentschieden gegen Ungarn verhindert hat. So reichte es wenigstens noch zu einer Notlandung mit abgebrochenem Flügel und ohne Räder, die der Pilot mit etlichen Schrammen überlebt hat. Endgültig aus dem Flieger steigt Toni Kroos aus, der Weltmeister und vierfache Championsleague-Sieger ist ab sofort nur noch Vereinsfußballer.
Nach Covid-Impfung Taktikanalyse
Ich bekomme meine zweite Covid-Impfung und fühle mich am Tag danach, am ersten Spieltag der Viertelfinale, immer noch ausgelaugt. Also schaue ich zuhause und habe mehr Zeit zur Taktikanalyse. Spanien spielt gegen die Schweiz und wird seiner Favoritenrolle letzlich mit viel Mühe gerecht. Spanien spielt vorne mit drei Stürmern, die sich konsequent breit aufstellen, die Außenstürmer kleben an der Außenlinie. Spanien kann sich das leisten, da die Spieler in der Abwehr und dem Mittelfeld spielerisch stark und ballsicher sind, den Ball immer wieder über die Außen ins Sturmzentrum bringen. Dort stehen mit Morata und später als dessen Ersatz Moreno zwar nominell starke Spieler im Zentrum, die aus den vielen Chancen erstaunlich wenig machen. So resultiert das einzige Tor aus einem abgefälschten Schuss außerhalb des Strafraums, den Sommer andernfalls wohl gehalten hätte.
Schweiz kämpft sich zurück
Nach dem frühen Rückstand, noch vor der zehnten Minute, kämpft sich die Schweiz Schritt für Schritt zurück ins Spiel. Spanien ist nicht mehr in der Lage wie noch zu Hochzeiten von Tiki Taka, den Ball quasi zu monopolisieren und den Gegner vor allem dadurch vom eigenen Tor fernzuhalten, dass er nie den Ball hat. Insbesondere kämpferisch starke Mannschaften wie die Schweiz, die auf starke Läufe einzelner Spieler bzw. Einzelaktionen setzen, kommen immer wieder durch das Mittelfeld, das mit drei Spielern auch dünn besetzt ist – das die Kehrseite des spanischen Spiels. Die Außenstürmer helfen gegebenenfalls hinten mit, brauchen aber natürlich einige Sekunden, um dort anzukommen. Das ist die Chance für den Gegner. Die Schweiz erspielt und erkämpft sich einige Chancen, benötigt aber die Hilfe der spanischen Abwehr zum Ausgleich, die beiden Innenverteidiger behindern sich gegenseitig, der Ball verspringt zu einem Schweizer, der quer auf Shaqiri legt, der wiederum überlegen einschiebt, das nach gut einer Stunde.
Rot für Freuler – das Spiel kippt
Mit der roten Karte für Freuler in der ca. 75. Minute kippt das Spiel völlig. Dieser Platzverweis zeigt die Tendenz, die sich schon im Schweden-Ukraine-Spiel gezeigt hat. Selbst wenn der Abwehrspieler den Ball trifft oder rechtzeitig in einen Zweikampf kommt, geht er mit gestrecktem Bein und offener Sohle dorthin, womöglich noch deutlich über der Grasnarbe, ziehen die Schiedsrichter knallhart durch, es folgt glatt Rot. Die Schweiz verteidigt mit allem, was geht, und zwingt Spanien, das gute Torgelegenheiten nahezu im Minutentakt vergibt, ins Elfmeterschießen. Das große Manko Spaniens, das sich auch in den ersten beiden Spielen zeigte: Es ist kein Problem, sich Torchancen herauszuspielen, aber an manchen Tagen treffen sie nicht mal den sprichwörtlichen Möbelwagen. Im Elfmeterschießen scheint die Seuche zunächst weiterzugehen, Busquets trifft mit dem ersten Schuss nur den Pfosten, die Schweiz trifft. Doch anschließend zeigen die Schweizer Nerven und scheitern drei Mal, zwei Mal unten links (vom Schützen aus gesehen) und ein Mal über das Tor. Spaniens drei Treffer aus fünf Elfmetern reicht für das Halbfinale.
Italiens stört Belgiens Spielaufbau
Dort kommt es zum Südeuropa-Duell mit Italien, das im namhaftesten Viertelfinale Belgien mit 2:1 niederhält, und das vollkommen verdient. In einem hochklassigen und chancenreichen Spiel schaffen die Italiener es nach der Anfangsphase, die belgische Passmaschine, geprägt von schnellen und direkten Pässen in die Spitze, zu unterbinden. Über weite Strecken des Spiels muss Belgien von hinten heraus mit langen Bällen operieren. Das kann auch eine Option sein, da vorne mit Lukaku ein erstklssiger Wandspieler zur Verfügung steht. In diesem Spiel wird er allerdings von Chiellini fast komplett aus dem Spiel genommen, so dass die langen Bälle wieder bei den Italienern landen.
Belgien krankt in der Abwehr
In diesem Spiel kann man erkennen, dass die Abwehr Belgiens schwächster Mannschaftsteil ist, Thorgan Hazard beispielsweise ist meist hinten fest eingebunden, was nicht seine Stärke ist. Italien läuft Belgien konsequent hoch an, was viel Kraft kostet, aber durch Tore belohnt wird. Vertonghen fängt im Strafraum einen tiefen Pass ab und will gerade nicht lang herausspielen, sondern mit dem Ball am Fuß nach vorne marschieren. Dabei springt ihm der Ball vor dem dritten Gegenspieler zu weit vom Fuß, Italien nutzt sofort die Gelegenheit, spielt Barella im Strafraum frei, der ins lange Eck trifft. Auch Belgien hat Chancen, wenn es doch mal bei Kontern durchkommt, de Bruyne und Lukaku zwingen Donnarumma zu Glanzparaden. Italien wirkt jedoch gefährlicher und erhöht kurz vor dem Pausenpfiff auf 2:0, Insigne hat zuviel Platz und trifft aus 20 Metern mit einem wunderbar angeschnittenen Ball an und über Courtois vorbei und hinweg, der etwa vier Meter vor dem eigenen Tor diese Option lässt. Belgien kommt aber noch vor der Pause zurück, Linksaußen Doku zieht bis zur Grundlinie durch, wo di Lorenzo ihn am Weiterlaufen hindert – den Elfmeter kann, muss man aber nicht geben. Lukaku zielt in die Mitte und schafft den Anschlusstreffer.
Belgien vergibt Chancen zum Ausgleich
In der zweiten Hälfte versucht es Doku häufiger mit Läufen an die Grundlinie. Belgien erspielt sich Großchancen zum Ausgleich, die beste nach einer Stunde, als Spinazzola das sichere Tor von Lukaku auf der Torlinie verhindert. Es fällt Belgien aber schwer, dauerhaft Druck aufzubauen, viele einfache Ballverluste unterbrechen immer wieder den Spielfluss und ermöglicht Italien, das nicht mehr so früh angreift, nach vorne zu spielen. Letztlich schafft es Italien auch dank der üblichen Zeitschinderei und der buffo, der Teil der comedia del'arte, die dem niederen Volk zugedacht ist, also dem Bauerntheater, das Spiel über die Zeit zu bringen. Doch es gibt einen Wermutstropfen für den Halbfinalisten, der überragende Linksverteidiger Spinazzola muss mit der Bahre vom Platz getragen werden, sein Einsatz gegen Spanien ist sicherlich fraglich.
Spanien oder Italien?
So, Zeit für die schwierige Prognose für das Halbfinale. Spanien gegen Italien – beide Mannschaften gehörten vor dem Turnier nicht zu den Top-Favoriten, eine von beiden wird im Endspiel stehen. Italien macht bisher den konsistenteren Eindruck, die Mannschaft scheint weiter als Spanien. Wird Spanien auch gegen Italien mit drei Stürmern und nur drei Mittelfeldspielern antreten? Italien wird dann auf jeden Fall ein Übergewicht im Mittelfeld habe. Doch, was wird Italien machen? Wird es Spanien ebenfalls früh anlaufen? Ich glaube das nicht, denn Spanien versteht es wesentlich besser, sich aus der Abwehr freizuspielen. Italien dürfte Spanien eher etwas kommen lassen, etwas weiter hinten anlaufen, eventuell aus der Defensive auf Konter setzen. Wie dem auch sein werde, ein gutes, vielleicht sogar ein großes Spiel ist zu erwarten.