Prag - Tag 18: Wegen der mediterranen Temperaturen in der Stadt halte ich auch einen mediterranen Lebensrhythmus für angebracht. Halte also meine Siesta und wache pünktlich vor dem Anpfiff des ersten Spieles auf. Werfe mich unter die Dusche, stelle die Nationalhymnen lauter, während ich mich rasiere, und schaue die erste Halbzeit mit nassen Haaren im Bett.
Italien spielt und wir alle kennen ja Italien-Spiele. Und ahnen, wie sie ausgehen könnten. Ehrlich gesagt, hätte mir jemand ein solches Drehbuch für ein Spiel angeboten, hätte ich es rundweg abgelehnt. Zuviel Klischee, unglaubwürdig, unoriginell.
Doch dies ist Fußball, dabei geht es um die Macht der Gewohnheit. Und um Traditionen, die sich aus einem rational schwer erklärbaren Grund stets weiter fortsetzen. Es ist eben die Logik des Kultes, nicht die des Lebens der freien Entscheidungen. Das bekommt besonders so ein Grünschnabel wie AustrALIEN zu spüren.
Fußball ist Kult
Erste Halbzeit, zwei kontrolliert spielende Teams, trotzdem ergeben sich einige wenige Chancen, die etwas besseren für Italien. Pause, meine Haare sind halbwegs trocken, ich ziehe mein Portugal-Shirt an und hüpfe in die Kellerbar. An einem Tisch sitzen wir zu fünft, alle nur mäßig am Geschehen interessiert (außer mir natürlich). Am anderen Tisch sitzen ein Mädchen und ein Junge, sie dinieren und reden in meiner Muttersprache. Ich rede übrigens in den Sprache der Einheimischen zu den Einheimischen und werde deshalb gleich als Portugiese identifiziert.
Dann: Ein Foul in einem Zweikampf wertet der spanische Schiedsrichter als Notbremse und zeigt dem italienischen Verteidiger rot. Geschieht ihm recht, denn das ist genau der, der das erste Tor im Spiel gegen die Einheimischen erzielt hatte und uns damit etlichen Kummer bereitet hat (siehe Tag 14). Jetzt läuft also das Spiel genau so, wie es sich Italien stets wünscht. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand, die Umstände rechtfertigen ihre Mauertaktik. Alle zehn Minuten etwa versuchen die beiden verbliebenen Offensivspieler, etwas nach vorne zu bewegen.
Fouler Elfer zum Schluss
Die Stimmung in der Kellerbar steigt, denn ein weiteres Mädchen ist gekommen. Die beiden feuern im Duett AustrALIEN an. Wir Jungs lächeln überlegen. Schließlich haben wir ja das coole Wissen, dass es am Ende anders kommt. Drei Minuten Nachspielzeit, die erste Minute verläuft ereignislos, dann bemüht sich Italien nochmals, scheitert, dann ist das Spiel fast aus und ein italienischer Stürmer dringt von links in den Strafraum ein, umspielt den ersten Verteidiger. Legt den Ball an dem hereinrutschenden zweiten Verteidiger vorbei. Der macht sich so klein wie möglich, zieht alle Extremitäten so sehr an den Rumpf, wie es ihm seine Physiognomie erlaubt.
Doch er weiß es in diesem Augenblick selbst. Er hat einen großen Fehler gemacht. Denn darauf hat der italienische Angreifer nur spekuliert. Und findet tatsächlich noch irgendeinen Körperteil, an dem er mit einem Fuß hängen bleiben kann. Und bleibt hängen und fällt und der Schiedsrichter darauf herein und pfeift. Vielleicht wollte der Unparteiische auch nur eine ereignislose Verlängerung vermeiden, wer weiß. Totti tritt an, die Mädels wünschen ihm die Scheiße an die Schuhe, wir Jungs wissen aber was kommt. Anlauf, Schuss, oben links, unhaltbar, Italien ist weiter. So steht es seit je her im Buche geschrieben.
Später mache ich mich auf den Weg zum Biergarten und treffe auf der Straße Francesca Totti, die unverheiratete Schwester des berühmten Bruders. Rufe ihr ein fröhliches „forza Italia“ zu, doch sie ist gerade damit beschäftigt, sich um Francescos uneheliche Kinder zu kümmern und muss schnell nach Hause Spaghetti kochen.
Der Kult des großen Ochsen
Der Biergarten ist voll, doch leider sind keine Fans da. Nur einige übriggebliebene enttäuschte Australier. Setze mich mit einem Bier an einen halbleeren Tisch. Hinter mir Einheimische. Der eine redet am Nachbartisch einen Engländer an. Erfahre dadurch, dass er Jurist mit dem Fachgebiet Markenschutz ist. Und dass er sein schlechtes Englisch dank einer Londoner Freundin gelernt hat.
Finde es aber gar nicht so schlecht, insbesondere die Aussprache ist für Einheimische ungewöhnlich gut. Doch dafür ist seine Muttersprache um so schlechter. Das Spiel geht hin und her, Schewtschenko trifft per Flugkopfball die Latte, postwendend hämmert ein Eidgenosse einen Freistoß an die Latte. Ansonsten viel Kampf und Krampf auf beiden Seiten.
Während dessen beginnt aber meine Leidenszeit. Der Markenschützer redet jetzt ununterbrochen in der Einheimischen-Sprache. Er ist Angehöriger eines Kultes, dem insbesondere Jungs in der Pubertät verfallen sind. Es ist der Kult des großen Ochsen. Dabei muss man wie bei einem Mantra die Formel „tý vole“ - „du Ochse“ nach jedem Wort wiederholen. Manchmal darf man auch zwei Worte, etwa eine Präposition und ein Substantiv, ohne die Anrufung des großen Ochsen auszusprechen.
In der Halbzeitpause gebe ich entnervt auf. Möchte meine sündige katholische Seele nicht länger diesem heidnischen Brauch aus der Hochpubertätszeit aussetzen. Und gehe in dieselbe Pizzeria wie an Tag 12. Lese in einer Zeitung zum wiederholten Mal einen Artikel über die Probleme des einheimischen Rechtssystems. Es gibt einfach zu wenig gut ausgebildete junge Nachwuchsjuristen. Ach ja, ich glaube, ich verstehe.
Nur einmal gelb und einmal Abseits
Während ich also an meiner Pizza kaue, verpasse ich die einzige gelbe Karte des Spiels und das einzige Abseits. Ansonsten ist schwer auszumachen, wer am Ende ins Viertelfinale einzieht. Die Verlängerung schaue ich wieder im Biergarten, wohlweislich weit entfernt von der Kultstätte des großen Ochsen.
Beim Elfmeterschießen bekomme ich endlich mit, wer für die Schweiz und für Ukraine jubelt. Schewtschenko tritt an, der Torwart hält. Jubel. Ein Schweizer läuft an, der Torwart hält. Wieder Jubel, scheinbar von denselben Tischen wie zuvor. Doch lässt sich jetzt keine Probe mehr machen, denn die Schweiz hat keinen Grund mehr zum Jubeln. Endergebnis: 3:0 im Elfmeterschießen.
Später am Abend treffe ich noch den persönlichen Fan von Andrej Schewtschenko in einem öffentlichen Verkehrsmittel. Er skandiert noch einmal sichtlich mitgenommen „Unkraina, Unkraina“, steigt aus und fällt wenig später wahrscheinlich in so etwas wie eine Totenstarre, aus der er dann zehn Stunden später erwachen wird.
Ihr deutscher WM-Beobachter in Prag