Tag drei des letzten Gruppenspieltags stellt mich vor eine echte Herausforderung: Wo kann ich Kroatien gegen Schottland sehen, wenn zeitgleich England gegen Tschechien spielt? Ich bekomme einen Tipp und versuch es in der Eule. Die Barfrau, die mich namentlich aus einer anderen Kneipe kennt, bedauert. „Wir schauen Tschechien.“ Ist ja klar. Ich entgegne, „ich will Kroatien sehen, Tschechien wird diese Taktiererei, wer nicht Gruppenerster werden will“. Die Barfrau will nichts gesagt haben, aber sagt mir, dass Silvia im NaCafé arbeitet. Natürlich, Silvia, in ihrer Kneipe habe ich vor fünf Jahren auf einem Mini-Bildschirm Portugal gegen Kroatien gesehen. Dann kam das Rauchverbot in den Kneipen, der Laden wurde zu einem Club, dann kam Corona und der Laden musste ganz schließen. Und richtig, im NaCafé hämmert Silvia ganz nervös auf einem Laptop herum. Mit gemeinsamer Hilfe schaffen wir es letztlich, das Spiel einzustellen, währenddessen kann ich meinen passiven Wortschatz kroatischer Schimpfwörter vertiefen. In diesem Spiel geht es um nichts anderes als das Weiterkommen, es gibt kein wenn und aber, der Gewinner qualifiziert sich, bei Unentschieden sind beide Mannschaften raus.
Spiel um alles oder nichts
Suela gesellt sich zu uns und es dauert nicht lange, da muss Silvia den ersten Rakija trinken. Man sieht gleich, Kroatien ist fußballerisch besser, Schottland ungestümer, außerdem mit Heimvorteil, das Spiel findet in Glasgow statt. Silvia schimpft auf Modrić, ein guter Fußballer, aber ein Mafiosi, der die Weiterentwicklung der Mannschaft aufhält. Dann wundert sie sich darüber, dass der Schiedsrichter aus Argentinien kommt, doch gerade das erweist sich als Vorteil, denn er ist wirklich neutral, kann die Härten im Spiel richtig einschätzen und verteilt keine unnötigen gelben Karten. „Wir Kroaten sind nicht wie die Deutschen, die ihr Spiel runter spielen, egal was passiert. Wir leben von den Emotionen“, unterrichtet mit Silvia und bricht in Euphorie aus, als Vlašić das 1:0 schießt, nach feiner Brust-Ablage von Perišić. „Der Perišić ist der einzige in der Mannschaft, der Eier in der Hose hat!“ Ich wiederum zeige mein Unverständnis darüber, dass Bayern ihn nach der vorletzten Saison nicht gekauft hat.
Blankas Bruder trifft
Vlašić ist übrigens der Bruder von Blanka Vlašić, der Hochspringerin, die jahrelang als Poster in meiner alten Wohnung gehangen hat, Blanka auf dem Gipfel der Welt, wo sie meine Gardinenstange überspringt, exakt auf der Höhe von 2,05m, dem goldenen Sprung der Weltmeisterschaft 2007. Davon erzähle ich jetzte aber nicht, denn ein Tscheche gesellt sich zu uns und beginnt eine unsinnige Konversation. Silvia macht ihn schnell rund, aber wie Tschechen eben sind, er kann in der Folgezeit weder das Maul halten noch irgendein Unrechtsbewusstsein entwickeln, dass Silvias Nerven zum Zerreißen angespannt sind. Kurz vor der Pause fällt dummerweise noch der Ausgleich und Silvia muss umgehend ihre Mutter und Oma anrufen, um sich Trost zu suchen. „Weißt du was“, sage ich zu dem Tschechen, „in Sachen Empathie bist du eine absolute Null!“
Ab 22h Terrassenverbot
Nach der Pause wird die kleine Terrasse geschlossen, die wenigen Gäste dort gesellen sich in den Innenraum, Suelas Mann kommt, nimmt sie mit, wir fiebern weiter mit Kroatien, wo das Arschloch von Modrić (nicht meine Worte) das erlösende 2:1 schießt. Weitere Rakijas werden bestellt und getrunken, diesmal muss die ganze Kneipe mittun. Ich bin das Zeug echt nicht mehr gewohnt und kippe es schnell runter, damit es weg ist. Suela kommt zurück, „Tschechien gegen England ist absolute Langeweile, England führt 1:0“, macht sie uns mit dem Zwischenstand des Parallelspiels vertraut. Kroatien macht die Sache klar, Silvias Oma ruft an, es herrscht überschäumende Freude. Ich weiß heute nicht einmal mehr, wer das Tor geschossen hat und auch nicht, wie Tschechien gegen England verloren hat, ob es Kroatien noch auf den zweiten Platz geschafft hat und was ich bezahlen musste. Auf jeden Fall finde ich am anderen Morgen einen Zettel auf dem Tisch, auf dem mir die Mutter meiner Tochter den baldigen Abschied androht, das mit den Worten „ich will jemand Normalen neben mir“. Das möchte ich allerdings auch, da haben wir immerhin eine Gemeinsamkeit. Außerdem will sie den Urlaub nicht mit mir verbringen, was mir auch keine große Sorgen bereitet. Irgendwie habe ich das alles schon erlebt, mehr als einmal, und kann das nicht mehr ernst nehmen.