Schon den letzten Spieltag der Vorrunde – das ernüchternde Deutschland-Ungarn-Spiel – nutze ich dazu, mich von dem Kroatien-Spiel zu erholen und bin für den Achtelfinal-Auftakt leidlich wieder hergestellt. Morgens kommt es noch zu hässlichen Szenen, die Mutter meiner Tochter demonstriert ihre Unpässlichkeit, irgendetwas zu tun, damit, dass sie den am Vortag zwecks Impfung angepieksten Arm in einer Schlinge trägt. Auch ansonsten stöhnt und ächzt es aus ihr heraus wie aus einer zweihundertjährigen Dampflokomotive (gab es die damals schon?). Da sich am Zustand der halbfertig eingerichteten Wohnung seit geraumer Zeit absolut nichts geändert hat, werfe ich ihr die Sachen, die sie aufgetässelt und seitdem vergessen hat, bildlich vor die Füße. Nicht ohne Grund, denn ich benötige frische Bettwäsche, die unter all diesem Krempel liegt. Das ist der Funke, der den schwelenden Konflikt zur Explosion bringt. Im anschließenden Wortgefecht, bei dem ich ihr ihre Untätigkeit, ihren Suff und ihr Parasitentum vorwerfe, droht sie mir mit heimtückischem Mord in der Nacht, Auszug, Entzug der Tochter, mich fertig zu machen, verhöhnt mich, ich sei gar nicht der Vater, beleidigt meine Mutter und dergleichen mehr. Nichts Neues aus dem wodkageschädigten Hirn, alles bekannt, alles schon gehört, jeder Satz in einer anderen Kultur wert, die Sprecherin handgreiflich zum Schweigen zu bringen. Man mag das gar nicht wörtlich zitieren. Selbst meine Tochter interessiert das nicht mehr, sie hat mittlerweile begriffen, dass ihre Mutter eine Maulheldin ist, den scharfen und manchmal großen Worten folgen äußerst selten Taten. Man kann es in der Sentenz zusammenfassen: Sie macht nicht, was sie sagt und sie sagt nicht, was sie macht.
Ermüdungsprogramm für meine Tochter
Wie dem auch sei, nach dem Gewitter scheint wieder die Sonne und ich fahre mit meiner Tochter zu den United Islands of Prague, einem kleinen Festival mit Musik auf mehreren Bühnen auf der Kampa-Insel, der Schützen-Insel und dem angrenzenden Janáček Ufer. Nach den Artistik-Darbietungen für Kinder, dem Kletter-Parcours für Kinder, dem riesigen Spielplatz auf der Kinderinsel, zwischenzeitlichen musikalischen Beiträgen, Keksen und einem Donut, zeigt meine Tochter gegen 18h erste Ermüdungserscheinungen und ich überrede sie, nach Hause zu fahren. So kann ich immerhin auch die zweite Hälfte des ersten Achtelfinalspiels sehen, in dem Dänemark ziemlich früh alles klar macht, nach einem schönen Konterangriff legt ein walisischer Abwehrspieler eine scharfe, flache Hereingabe wunderbar dem dänischen Stürmer Dolberg auf, der prompt abzieht und trifft, 2:0. Wales wirft zwar noch alles in die Wagschale und hat auch noch eine gute Kopfballchance, die Bale versemmelt, doch die Dänen schrauben das Ergebnis am Ende nach zwei blitzsauber abgeschlossenen Kontern auf 4:0. Meine Tochter ist zwischenzeitlich auf meinem Arm eingeschlafen – das ist sicherlich kein Komentar zum Geschehen auf dem grünen Rechteck -, so dass ich das Abendspiel ungestört im Fraktal sehen kann.
Trikotfarben und Nationalfarben
Dort begegnet mit eine seltsame Atmosphäre, Jan, eine Finne, versucht sich in Witzen über die italienische Trikotfarbe. „Fußball ist der einzige Sport, wo man anhand der Trikotfarbe nicht sagen kann, wer wer ist“, frotzelt er. „Die Italiener heißen auch Azzurris“, wirft Fred hinter der Bar ein, „deshalb tragen sie blau.“ Neben mir sitzt der Syrer und der Balkanese, die ich schon einmal, ich denke es war beim zweiten Italien-Spiel, getroffen habe, später kompletiert noch der Inder das Trio. Erdbeer-Nick kommt herunter: „Ich glaube, Italien wird Österreich zerstören.“ „Was hast du noch mal über die Türkei gesagt?“, stichele ich. „Nun ja, man kann sich irren.“ Fred belehrt mich von hinter der Bar: „Wir haben heute auch Österreicher hier.“ Während des Spiels höre ich häufiger die tiefen österreichischen Basslaute, die das Spielgeschehen wohlwollend begleiten. Bei der Herkunft tippe ich auf das Salzburger Land, es klingt genauso wie Guido aus Freilassing, mit dem ich vor zwanzig Jahren in Prag befreundet war. (Wer es genau wissen möchte, Freilassing ist das deutsche Grenzstädtchen auf der anderen Seite, sozusagen das Kehl von Salzburg, so wie Straßburg das Salzburg von Kehl ist. Kommen Sie noch mit?).
Keine Italien-Sympathien vor Ort
Warum denke ich bei dem Spiel eigentlich an Straßburg? Ja, ich vermisse natürlich Micky, den eingefleischten Italien-Fan. In dieser Runde kann ich nämlich keine Sympathien für Italien entdecken, was beim Abseitstor von Arnautovic in der zweiten Hälfte klar wird, als ausnahmslos das ganze Lokal in Jubel ausbricht. Na ja, dann schreitet der Video-Assistent ein und der ältere Österreicher, es handelt sich um Vater und Sohn, anfangs ist da sogar der Enkelsohn dabei, also ein Drei-Generationen-Ausflug, muss darüber informiert werden, als er von seiner Jubel-Zigarette zurück unter Deck kommt. Umsonst geraucht. Das sind halt die modernen Zeiten.
Finnen-Jan bietet Erdbeer-Nick eine Wette an, die man sehr präzise formulieren muss: Finnen-Jan wettet, dass Italien mit genau einem Tor Unterschied gewinnt. Ich rede Nick gut zu, die Wette anzunehmen, doch erweist sich das am Ende als schlechte Investition.
Wieso Türkei?
Nick kommentiert in einer kurzen Phase, als ein paar Fehlpässe den Spielverlauf hemmen: „Das bleibt jetzt so für die nächsten 80 Minuten.“ „Was hast du noch mal über die Türkei gesagt?“, meine umgehende Replik. Die wende ich noch zwei, drei Mal an, bis Vinyl-Single Keith mich fragt: „Was hat das jetzt eigentlich mit der Türkei auf sich?“ Ich kläre auf: „Die Türkei ist kein schlechtes Team, lautete Nicks felsenfeste Überzeugung nach dem Eröffnungsspiel.“ Meine Gereiztheit gegenüber dem Publikum legt sich allmählich, ich habe tatsächlich in der ersten Viertelstunde erwogen, die Lokalität in der Pause zu wechseln, ich bleibe und darf mich in der Halbzeitpause daran erinnern lassen, dass Spanien 1964 im Endspiel der zweiten Europameisterschaft die Sowjetunion besiegt hat, welche die erste EM gewonnen hatte. (Ich hoffe, meine Geschichtskenntnisse trügen mich da nicht, denn für West-Deutschland begann die Geschichte der EM erst 1968 mit einem Ausscheiden in der Qualifikation, ehe West-Deutschland mit drei Finalteilnahmen hintereinander und zwei Titeln mal richtig durchgestartet ist. Was die DDR in der Zeit zustande gebracht hat, entzieht sich meiner Kenntnis, so weit ich weiß, hat sie es nie zu einem EM-Endturnier geschafft.)
Österreichs Spieler konditionsstark
Finnen-Jan wird in der zweiten Hälfte langsam unruhig: „Wann werden die Österreicher endlich müde und lassen in ihrem Widerstan nach?“ „Nie, die spielen fast alle in der Bundesliga auf exponierten Positionen bei Vereinen, die ein laufintensives Spiel pflegen“, kläre ich auf. So ist und bleibt es dann auch, das Spiel muss in die Verlängerung. Ich sondiere bei den Österreichern die Chancen für ein Weiterkommen: „Für uns ist das jetzt schon ein großer Erfolg: Wenn sie es ins Elfmeterschießen schaffen, hat Italien den Druck.“ Wir einigen uns darauf, dass Österreich der zweite torgefährliche Spieler fehlt, so ruht die Last der Verantwortung ganz auf Arnautovic.
Italien macht aber frühzeitig in der Verlängerung den Treffer, der gerade eingewechselte Chiesa nutzt den Raum nach einer schönen Seitenverlagerung im Strafraum, legt sich den Ball mit dem Kopf etwas zurück, umkurvt damit locker den herbeigeeilten österreichischen Verteidiger (gegen die Laufrichtung!) und zieht mit links halbflach ins lange Eck. Schöne Aktion, das muss man anerkennen. Italien macht auch noch das 2:0, die Sache scheint klar. Dann kommt Stuttgart-Kalajdzic für Arnautovic, da ist er, der zweite torgefährliche Spieler, und sorgt mit einem superben Flugkopfball knapp über der Grasnarbe ins kurze Eck des überraschten italienischen Torwarts mit dem schönen Namen Dona Roma (geschrieben: Donnarumma) für Restspannung. Es reicht aber nicht mehr für Österreich, „der Kopfball von Arnautovic wäre es gewesen, zwanzig Zentimeter haben gefehlt“, bescheidet der mittlere des Dreigenerationenausflugs. Ich stimme zu und bin voller Hochachtung für die gezeigte Leistung des österreichischen Teams. In der Verlängerung gegen Italien verlieren, das ist Deutschland bei der WM 2006 auch schon passiert, sicherlich keine Schande!