Die Sonne lacht am Nachmittag, ich habe gute Laune und gehe von meiner Arbeit direkt in den Rieger-Park, England gegen Wales, das möchte ich mir doch nicht entgehen lassen. Und wie in alten Zeiten sehe ich dort die alten Kameraden von der Insel und setze mich zu ihnen. Nicht an den gleichen Tisch, denn ich möchte nicht für unnötige Intimität sorgen, aber gleich an den Nachbartisch mit der Entschuldigung, niemanden in seiner convenience stören zu wollen. Dort sitzt ein russisches Pärchen und isst getrockneten Fisch. Der Park ist natürlich fest in englischer Hand, ich frage nach, ob es nicht auch Waliser gebe. Doch, eine Handvoll hockt verstreut unter den Engländern, gleich am Nebentisch einer. Es ist Nachmittag, die Zeit für die große Leinwand, die bietet das schärfere Bild.
Deutscher Schiedsrichter
Über das Spiel zu reden lohnt sich lange nicht, denn der Schiedsrichter ist aus Deutschland, was die üblichen Bedenken auslöst. Kann nach 1966 ein deutscher Schiedsrichter ein englisches Spiel wirklich neutral beurteilen? Ich wende ein, dass der damals sicherlich noch nicht an Fußball gedacht hat, noch nicht einmal geboren war. Das sei egal, bekomme ich zur Antwort, er habe sich doch sicher für Fußball interessiert und kenne die Geschichte. Jo mei, aber da waren doch so viele Endspiele der Deutschen und nach 1966 ist es doch alles in allem gegen England meist gut gegangen. Nun ja, 1966 ist eben doch eher ein englisches und nicht ein deutsches Trauma, dann seit 50 Jahren haben die Engländer nichts mehr gewonnen, kamen nicht einmal besonders nahe, zwei verlorene Halbfinale in den 90er Jahren, beide im Elfmeterschießen gegen den anschließenden Gewinner beider Turniere.
Ein englischer Torwart
Ich spare mir diese Betrachtungen und erlebe nach der walisischen Nationalhymne auch walisischen Jubel. Bale schickt ein gut sichtbaren Freistoß aus bestimmt 30 Metern flach neben den Pfosten. Das ist für einen englischen Torwart bereits zu schwierig. Um des lieben Frieden willens spare ich mir jeglichen Kommentar. Kann jedem großen Torwart mal passieren. Doch hätte er bei seiner Hecht-Taucheinlage die offene Hand statt der geballten Faust ausgestreckt, wie es andere Torhüter zu tun pflegen, dann...
England müht sich und das sympathische an englischen Fans ist ja, dass sie ihr Team sofort anfeuern. Besonders das Grüppchen, vor mir, das bereits die Aufstellung von Wayne Rooney mit frenetischem Jubel begrüßt hat. Ich wusste gar nicht, dass der noch Unterstützer im eigenen Land besitzt. Ich trinke langsam, der Tag ist ja noch lang, doch ein Bier ist nun mal nur ein Bier und in der Halbzeitpause ringe ich mich zu einem weiteren durch.
Vardy, der neue Müller
Mit dem neuen Bier betritt auch Vardy, Englands shootingstar der abgelaufenen Saison das green und zeigt bald schon seine außergewöhnliche Torgefährlichkeit. Er schafft es sogar, aus Abseitsposition zu treffen. Fucking German referee, gebe ich meinem englischen Bekannten als Vorlage für eine Revision seiner eingänglichen Bemerkung über 1966 mit etwa einstündiger Verspätung zu bedenken. Nach der zehnten Wiederholung und ausgiebiger Analyse durch das tschechische Fernsehen sehe ich auch, dass Vardy zwar im Abseits stand, der unfreiwillige Pass aber von einem walisischen Dickschädel im Gewühl der Luftkämpfe über dem Hoheitsgebiet des auf der Linie klebenden Torwarts stammt.
Gehe niemals vor Spielende aufs Klo
Schade, denke ich mir, denn ich hatte mich bereits mit einem Szenario, England ein Punkt nach zwei Spielen, angefreundet. Zwei Punkte nach zwei Spielen wäre aber auch nicht so uninteressant. Wales verteidigt immer verzweifelter, Balle ist mehr hinten beschäftigt als Entlastung nach vorne zu bringen, doch lange hält das Ergebnis. Nachspielzeit, drei Minuten. Dann steht der ausgewiesene Wales-Fan am Nachbartisch tatsächlich auf und begibt sich zur Toilette. Mir ist gleich klar, dass das nichts Gutes zu bedeuten hat und noch ehe er das Pissoir stoischen Schrittes erreicht, brandet riesiger Jubel im Stadi..., Entschuldigung, im Rieger-Park, die Rooney-Fans springen wieder auf und tanzen auf den Tischen (dichterische Freiheit) und zertrümmern krachend einige Korbstühle (s.o.). Das war's, der Waliser trottet mürrisch vom Pissoir zurück zum Tisch, gibt seinem Kumpel Bescheid und macht sich wortlos von dannen.
Das Lied von den zehn deutschen Bombern
Kurz darauf singen die Rooney-Fans das schöne Kinderlied von den nine German bombers, welche die english RAF nacheinander abschießt. Das ist im Grunde eine Variation von den zehn kleinen Negerlein, die nacheinander aus unterschiedlich Gründen abhanden kommen. Ach, ist das lange her, als wir als Kinder so rückwärts zählen geübt haben, lange bevor es political correctness gab. Damals gab es auch noch Negerküsse bzw. Mohrenköpfchen als Höhepunkt jeder Geburtstagsparty. Wie diese Dinger heute wohl heißen mögen? Auf jeden Fall macht der Skeptiker des deutschen Schiedsrichterhandwerks die Bemerkung, er sei nicht der englische Botschafter, sonst würde er sich entschuldigen. Ich winke ab und will erwidern, die Eh Emm ist keine Veranstaltung für Völkerfreundschaft, doch dabei bemerke ich, dass ich diesen Begriff auf englisch noch nie benutzt habe und auch überhaupt nicht kenne. Ich gehe bald, denn ich brauche eine kleine Verschnaufpause vor dem Abendspiel. Zu Hause höre ich im Radio France International das Ergebnis. Nordirland besiegt die Ukraine 2:0. Auf dem Weg zurück in den trinkfreudigen Stadteil Žižkov erhalte ich rätselhafte Sms, die mich nach mehrmaliger Nachfrage das weitere Geschehen erraten lassen. Mein englischer Mitbewohner hat sein Telefon verloren, das wahrscheinlich in der Rieger-Park-Bar zum Abholen bereit liegt, was ich ihm mitteilen soll. Nicht ganz schuldlos daran war wahrscheinlich der Konsum alkoholhaltiger Erfrischungsgetränke.
Wetterkapriolen
Ich treffe mich aber mit meinem deutschen Kumpel von Tag 1 und wir begeben uns wegen eines aufziehenden Gewitters in ein nicht so verrauchtes Kneipenrestaurant mit Fernsehbebilderung. Die erste Hälfte ist reichlich unerwähnenswert, hinter uns sitzen desinteressierte junge Holländer, essen und trinken, neben uns phlegmatisch schauende Tschechen, vor uns eine internationale Gruppe, in der ein Deutscher auf englisch über das deutsche Team spricht, die einzige Frau am Tisch italienisch redet und alle essen. Hummels macht nach seiner Verletzung Aufbautraining unter verschärften Bedingungen, Sami Khedira kassiert früh eine gelbe Karte und es ist wenig Dynamik im Spiel.
Zur zweiten Hälfte wagen wir uns doch in den knallvollen Rieger-Park, wo wir einen etwas schräg angelegten Sitzplatz neben der kleinen Leinwand ergattern. Die Polen spielen gleich eine dicke Chance heraus, doch der Nebenmann von Lewandowski vermag es einfach nicht, den Ball zu treffen. Dann schießt auch mal Müller aufs Tor. Anschließend zieht die deutsche Mannschaft ihre Ballstafetten auf und bleibt im knallengen Torraum doch irgendwo hängen. Kein Wunder, dass sich keine Lücken auftun, denn dem deutschen Spiel geht jegliche Dynamik ab, die erst mit der Einwechslung von Schürrle aufkommt. Gomez kommt auch noch, doch große Torchancen bleiben nahezu aus. Dafür ist Boateng in der Abwehr gewohnt souverän, Lewandowski kann sich gegen ihn nicht entscheidend in Szene setzen. Weil Höwedes rechts spielt, fliegen die deutschen Adler ausschließlich mit einem Flügel. Sami Khedira ist ein der zweiten Hälfte überhaupt nicht zu sehen, ich frage mich nach dem Spiel, ob er in der Kabine geblieben ist und wer für ihn gekommen ist – ergebnislos.
Taktische Nachbetrachtung
Das von mir vorhergesagte Unentschieden hat Bestand, beide Mannschaften tun sich nicht allzu weh und streben gleichmütig ins Achtelfinale. Das hält die vielen deutschen Jungbesucher jedoch nicht vom stimmkräftigen Feiern ab. Die sind wohl mit dem Sommermärchen vor zehn Jahren sozialisiert worden und machen aus allem eine Party. Und dann setzt auch noch heftiger Regen ein, wir flüchten uns für einige Minuten in eine nahe Bar, Erinnerungen werden wach, weißt du noch, wie es hier früher ausgesehen hat und dergleichen. Später lande ich in meiner Wohngegend und erörtere das Fußballgeschehen mit einem flüchtigen, den Sport gelegentlich noch praktizierenden Bekannten, der das Turnier liebt, alle Spiele gesehen hat und der eigenen Mannschaft gegen Spanien eine taktische Meisterleistung bescheinigt. Der Mann hat vollkommen recht.