Prag - Trotz langer Erwägungen, wo ich diese Spiele am besten schauen kann, lande ich letztlich in Fred’s Bar. Warum auch nicht? Dort hängt eine Leinwand, dort sind wenige Leute, wahrscheinlich einige Bekannte, auch wenn ich die nicht immer unbedingt sehen möchte. Dort habe ich meine Ruhe und bin schnell wieder zu Hause. Außerdem erlebe ich einen Schweizer Fan, was ich zugegebenermaßen im Voraus nicht wissen kann. Er kommt nach mir und gibt zunächst eine komplizierte Bestellung an der Bar auf. Er spricht tschechisch, etwas holprig, leise, sodass man ihm ganz genau zuhören muss, als wolle er das Verstanden-Werden eher heraufbeschwören als durch korrekte Zeichenbenutzung herstellen.
Nicklige Südamerikaner
Eine albanische Mannschaft besteht aus elf Einzelspielern, die gegen eine andere Mannschaft und gegen zehn Mitspieler spielt. Jeder möchte der Star sein, der sich auf dem Platz alles erlauben kann und die anderen anschnauzt, wenn die nicht die Drecksarbeit für ihn machen oder ihm den Ball zuspielen.
Das Spiel ist nicklig, von beiden Seiten, Kosovo, Entschuldigung, die Schweiz steht der bekannten südamerikanischen Härte in nichts nach. Ach ja, Kosovo, die Schweizer Nationalmannschaft besteht ja zur Hälfte aus Kosovo-Albanern, die sich im Zuge der Balkan-Kriege der 1990er Jahre dort angesiedelt haben und dann teilweise bleiben durften. Der Nationalmannschaft tut das gut, denn der Albaner an sich ist ja kein schlechter Fußballspieler. Allerdings hat eine albanische Mannschaft so gut wie keine Aussicht, jemals einen bedeutenden Erfolg zu erzielen. Das liegt einfach in der tief verwurzelten Mentalität, die ich in der Vergangenheit ausgiebig studieren konnte. Eine albanische Mannschaft besteht aus elf Einzelspielern, die gegen eine andere Mannschaft und gegen zehn Mitspieler spielt. Jeder möchte der Star sein, der sich auf dem Platz alles erlauben kann und die anderen anschnauzt, wenn die nicht die Drecksarbeit für ihn machen oder ihm den Ball zuspielen. Eine albanische Fußballmannschaft ist wie ein Mafia-Clan, wer stärker ist, unterdrückt die anderen, die alle nur auf die Chance warten, einen über sich abzuservieren. Dabei kann weder Teamgeist noch Kreativität entstehen. Die Kosovo-Albaner im Schweizer Team spielen aber noch mit anderen Nationalitäten in einer Mannschaft, da vermischt sich das, das ist dann gut für beide, den Spieler und das Team.
Benaglio klebt auf der Linie
Ecuador geht in Führung, einen Freistoß aus der Nähe der Eckfahne köpft ein völlig allein gelassener Ecuadorianer aus vier Metern ein, Benaglio klebt auf der Linie und hechtet dem Ball vergeblich hinterher. Danach ist die Schweiz bemühter und der rätselhafte Fan bestellt Huhn mit Zwetschgen. Die Serviererin fragt zwei Mal irritiert nach, ob er es wirklich nicht jetzt, sondern erst um acht Uhr essen möchte. Einer der beiden notorischen Iren will mir erklären, warum in der beinahe leeren Bar so eine komische Atmosphäre herrscht und er jetzt nach Hause geht. Ich höre mir das langmütig an und bescheide, dass ich Fußball schaue und es mir ziemlich egal ist, was wer mit wem warum aus welchem Anlass und unter welchen Umständen und zu welchem Zweck. Dorftratsch, abscheulich.
Der Schweizer stößt mit uns an der Bar an und erklärt uns, dass die Schweiz sein Land ist – auf tschechisch. Langsam müsste er doch mitbekommen haben, dass hier kein einziger Tscheche sitzt. Tschechen und Fußball-WM?
Zu Beginn der zweiten Hälfte schaut der Schweizer Fan irritiert auf seine Uhr, es ist erst sieben, das Essen aber noch nicht da. Das er dann jedoch gleich haben will. Er spricht beharrlich ein Tschechisch, dem man seine Bemühtheit und reduzierten Wortschatz anhört. Prinzipiell ist das ja gut, um sich zu integrieren, aber der Verständigung nicht gerade förderlich, sondern leistet Missverständnissen Vorschub. Auf jeden Fall jubelt er auf Englisch, als die Schweizer ausgleichen. Dann der schönste Moment des Spiels, Nachspielzeit, Ecuador im Angriff über rechts, der Pass vors Tor kommt überlegt und gut, der ecuadorianische Stürmer versucht mit dem Ball am Fuß einen Schweizer zu umkurven, wird aber abgeblockt. Der Schweizer rappelt sich auf, schnappt sich den Ball und zieht los, wird an der Mittellinie gefoult, steht aber auf und läuft dem Ball im nun plötzlich ziemlich freien Raum hinterher, spielt noch einen öffnenden Pass nach außen und ein, zwei Pässe später nimmt ein Schweizer den Ball aus vollem Lauf direkt ab und hämmert ihn aus kürzester Entfernung ins kurze Eck. Zu dieser Aktion muss man applaudieren, dreizehn Sekunden später ist die Nachspielzeit abgelaufen. Der Schweizer stößt mit uns an der Bar an und erklärt uns, dass die Schweiz sein Land ist – auf tschechisch. Langsam müsste er doch mitbekommen haben, dass hier kein einziger Tscheche sitzt. Tschechen und Fußball-WM?
Benzemas zweieinhalb Tore
Auch zum Frankreich-gegen-Honduras-Spiel finde ich mich in Fred’s Bar ein. Frankreich ist spielbestimmend, Honduras setzt Härte dagegen, die am Ende der ersten Hälfte in eine gelb-rote Karte und einen Elfmeter mündet, den Benzema sicher verwandelt. Anfang der zweiten Hälfte schießt derselbe Spieler einen Ball gegen den Pfosten, von dort prallt er parallel zur Torlinie zum Torwart ab, der ihn sich über die Linie fummelt. Was folgt, ist ein herrlich archaischer Moment, der honduranische Trainer protestiert, ermutigt seine Spieler ebenfalls zu protestieren. Ich stelle mir das so vor: Niemals war der Ball hinter der Linie, das war kein Tor. – Aber senor, wir haben jetzt die Torlinientechnik. – Geh mir weg mit der Torlinientechnik, das war kein Tor, lass mich durch zu dem Hund, dem Schiedsrichter... – Senor, die Torlinientechnik ist unbestechlich, wir wissen sofort, ob der Ball über der Linie war oder nicht. - ... wo ist dieser schwarze Hund, das ich ihm die cojones... – Was ist denn hier los, caballeros? Wissen Sie überhaupt, wie viel Watt Ausgangsleistung die Torlinientechnik benötigt? Nein? Dann gehen Sie mal schnell auf ihre Bank zurück, senor. - ... die cojones, jawoll, die werfe ich dann diesem Hund...
Auf jeden Fall muss Benzema noch ein Tor für seine doublette schießen, Tor zwei wird offiziell als Eigentor gewertet. Irgendwie war es das auch.
Unglücklicher Beginn für BuH
Spiel drei möchte ich mir auf gar keinen Fall entgehen lassen, es ist der erste Auftritt von Bosnien und Herzegowina bei einer WM. Ich wechsle in die Spätbar, die mir alles bietet, was mir unter normalen Umständen den Nerv raubt. Menschen vor dem Bildschirm unter psychoaktiven Substanzen, bei denen es keinen Zweck hat, sie auf ihre Undurchsichtigkeit aufmerksam zu machen, zunehmend mehr Leute mit Feierbedarf, später stellt sich heraus, dass sie beim Respect-Musikfestival tätig waren, ich unterhalte mich mit einem bretonischen Musikproduzenten, der sich als Anarchist bezeichnet und als Betreiber eines winzigen Tonstudios in einem Dorf, wo sich Asterix und Obelix Gute Nacht sagen. Doch zuvor das Debüt Bosnien und Herzegowinas, das denkbar schlecht beginnt, mit einem unglücklichen Eigentor nach knapp zwei Minuten, Kolasinac fällt nach einer Freistoßflanke der Ball gegen den Fuß und von dort ins Tor. Argentinien macht nicht viel mehr als es muss und ich erfahre von der peruanischen Mitbesitzerin der Bar, dass Argentinien aus dem Kreis der südamerikanischen Nationen ausgeschlossen ist. Sie sind wie Europäer, behauptet sie, das soll sich nicht nur auf Fußball beziehen. Auf jeden Fall ist sie gegen Argentinien und findet irgendetwas ungerecht, ich komme aber nicht darauf, was. Die Gruppenauslosung, ja, aber was kann da schon gerecht sein? Dem Zufall einer solchen Auslosung wird ja kräftig auf die Sprünge geholfen, doch ein Restrisiko ist eben immer dabei.
Bosnien und Herzegowina spielt gut mit, Messi beendet dann aber alle Träume. Immerhin gelingt Ibisevic, hinlänglich aus der Bundesliga bekannt, der erste Treffer für den WM-Debutanten. Herzlichen Glückwunsch!
Gerd Lemke