Prag - Tag 11: Heute ist der wahrscheinlich härteste Tag der WM. Das zumindest wurde mir gestern klar, als ich auf den Spielplan geschaut habe. Darüber hinaus stöhnt die Stadt wieder unter einer schwülen Hitze.
Im Flur tobt ein Heidenlärm, die Elektroinstallation wird neu verlegt. Dazu muss erst mal der Putz aufgebohrt werden. Trotz der widrigen Umstände bleibe ich eisern zu Hause und schalte kurz vor drei den Fernseher an. Togo tritt tatsächlich zum Spiel an, die Spieler streiken also nicht mehr.
Schön, denn auch die Schweiz spielt mit, so dass sich ein munteres Fußballspiel entwickeln kann. Meine Lebensbegleiterin ruft mich gerade an, als ich den Schiedsrichter als schwarze Sau und Rassisten beschimpfe. Er verweigert den Togolesen einen glasklaren Elfmeter. "Du rassistische Blindschleiche!", brülle ich in den Hörer, dann ist die Verbindung unterbrochen. Die gesamte Halbzeitpause benötige ich, um mich zu entschuldigen.
In der zweiten Halbzeit das selbe Bild und das selbe Ergebnis. Die Schweiz schießt wieder ein Tor, Togo ist draußen und Otto Pfister sucht einen neuen Job. Der Mann hat ja in seinem Leben mehr afrikanische Teams trainiert als es dort Länder gibt. Es heißt, vor der Taktikschulung hat er den Spielern erst mal Rechnen beigebracht, damit die überhaupt verstehen, was er mit Überzahl und Unterzahl meint. Während in der Stadt die Schwüle noch drückender wird, regnet es in Deutschland in Strömen. Ich schaue sehnsüchtig auf die Bilder meiner Heimat.
Schewtschenko trifft
Zum zweiten Spiel rücke ich aus. Und lande auf der winzigen Terrasse des Irish Club um die Ecke (siehe Tag 3). Dort ist ein Plasma-Bildschirm aufgehängt, so dass ich während des Spiels auch noch Passanten beobachten kann. Habe diesen Ort gewählt, weil ich hier ukrainische Fans vermute. In der Tat, als das 1:0 fällt, höre ich von drinnen einen Fan jubeln.
Mit schöner Regelmäßigkeit ertönt nun seine Stimme, stets mit einer Verzögerung von zehn Sekunden. Dies ist die mittlere Reaktionszeit eines Nervensystems, das zuvor in Wodka konserviert wurde. Während ich also schon weiß, dass Schewtschenko, Voronin & Co. eine weitere Chance vergeben, hebt sich von drinnen der hoffnungsfrohe Jubelschrei an, der wieder in sich zusammen sackt.
Interessanterweise kommt mit jedem ukrainischen Tor eine Stimme hinzu, ohne dass ich jemanden in die Bar hineingehen gesehen hätte. Am Ende - ich schaue die letzten zehn Minuten drinnen - sind sie zu viert und trinken einen grünen Schnaps, den wahrscheinlich der irische Besitzer spendiert hat.
Das Weltende naht
Draußen droht gerade der Weltuntergang. Mit einem Mal hat sich der Himmel verfinstert, die Menschen hetzen panisch herum, um einen Unterschlupf zu finden, das Vieh blökt unruhig in den Ställen, dann hebt ein Brausen und Toben an, schließlich fährt ein Blitz in den Veitsdom. Das Strafgericht ist da, die Ungläubigen zu vernichten. Wer jetzt keinen Fernseher hat, der findet keinen mehr, wer jetzt allein schaut, wird es bis zum Abpfiff tun.
Pünktlich zum letzten Spiel hört das reinigende Gewitter auf, der Regen hat die Leichen praktischerweise gleich in die Moldau gespült und ich gehe zur Reggae-Bar, wo heute knallharter Breakbeat auf Fußball trifft. Das passt wesentlich besser zusammen als die für die Einheimischen so verheerende Mischung aus Marihuana und Fußball (siehe Tag 9).
Sogar spanische Fans fiebern mit. Das müssen sie auch, denn ihr Team liegt früh zurück. Während sich die DJane richtig ins Zeug legt, um mit den Tempus- und Rhythmuswechseln des spanischen Spiels mitzuhalten, schaue ich weiterhin sehnsüchtig auf den Regen in meiner Heimat.
Ein Spanier neben mir raucht bereits seine dritte Zigarette, in die er wahrscheinlich ein mir unbekanntes Gewürz beigemischt hat. Doch Marihuana scheint es nicht zu sein, dessen Geruch hatte ich angenehmer in Erinnerung. Es riecht eher wie das Extrakt aus den Rückständen einer jahrelang nicht geputzten Wasserpfeife.
Wir reden nicht miteinander, schauen uns nicht an, haben uns nicht ein Mal vorgestellt. Sondern fiebern einfach nur mit dem iberischen Team mit, das am Ende noch drei Treffer markiert. Wenn auch der letzte aus einem höchst fragwürdigen Elfmeter entspringt, ist der Sieg verdient.
Während der Spanier einen lästigen Einheimischen abschüttelt, der ihm in schlechtem Englisch über seine Musikpräferenzen unterrichtet - Electro statt Breakbeat -, schildere ich einem interessierten Slowaken den Spielverlauf der letzten Minuten. Kurz nach dem Spanier verlasse auch ich diesen Ort und bin erleichtert. Der härteste Tag der WM - ich habe ihn geschafft! Und schaue sehnsüchtig in den Himmel gen Westen.
Ihr deutscher WM-Beobachter in Prag
Diesmal gibts keine Frage, stattdessen verschiebe ich die Auflösung des gestrigen Rätsels auf ein andermal. So bleibt wenigstens die Spannung erhalten.