Sonntag, nach der Siesta, die Haare müssen runter. Kaum habe ich mir im Bad Platz gemacht, bequem hantieren zu können, kommen meine Tochter und ihre Mutter nach Hause, letztere reklamiert gleich das Bad für sich. Ich reagiere barsch, sehe auch nicht ein, warum sie schon wieder duschen muss. Unser Verhältnis ist alles andere als gut, das war es aber noch nie. Ich begleite beide anschließendend zur Tante meiner Tochter, sie planen Eis essen zu gehen. Die Mutter meiner Tochter versucht mich von dort schnell zu verscheuchen, sie fühlt sich wohl unangenehm, das dünne Eis der Lügen nund Halbwahrheiten, mit dem sie die persönlichen Beziehungen überzieht und diejenigen der anderen untereinander beständig vergiftet, könne aufbrechen und sie selbst darin versinken.
Auf der Suche nach Fans
Egal, Zeit für das Tschechien-Spiel, ich gehe gespannt durch die Straße der Helden von Dukla – damit ist nicht der Prager Armeesportclub mit dem Stadion mit Aussicht auf den Zoo gemeint, sondern der Dukla-Pass und eine wichtige Schlacht im Zweiten Weltkrieg, an der die Partisanen beteiligt waren – doch keine der einschlägigen Lokalitäten zieht mich wirklich an, nirgends herrscht Stimmung, Vorfreude, bange Spannung vor dem Anpfiff, höchstens eine Handvoll Unverzagter schaut ergeben dorthin, wo ich einen Fernsehbildschirm vermute. Ich lenke meine Schritte Richtung Baumpark, doch aus einem potentiellen Gartenlokal höre ich Klänge von live-Musik, da wird es wohl auch keinen Fußball geben. Schließlich lande ich auf der Terrasse der Eule, wo sich acht, neun Personen um einen Fernseher gruppieren. Suela, die dort arbeitet, meint auch, dass in ihrem Heimatland alle schauen würden, hier in Tschechien scheint das aber niemanden zu interessieren. Ich denke an die Worte meines Schülers Ladislav F., „Tschechien kann Niederlande“, so würde man auf Neudeutsch sagen, was er in überkorrektem Deutsch ausdrücken wollte.
Tschechien kann Niederlande
Richtig, man denke an 1976, das Halbfinale zwischen der damals noch existierenden Tschechoslowakei und dem frischgebackenen Vize-Weltmeister Niederlande. Dann natürlich 2004, die Rache für 2000 und den Elfmeterpfiff von Collina in letzter Sekunde. Tschechien hat den Niederlanden auch die Qualifikation für eines der beiden letzten Turniere verbaut, das die Niederlande überraschend verpasst hat, war es die EM 2016 oder die WM 2018? Kurz und gut, Tschechien kann Niederlande und fühlt sich immer wohl, wenn es als Außenseiter den Gegner auskontern kann.
Das Spiel ist zunächst etwas zäh, erinnert an Deutschland gegen Ungarn, die Niederlande belagern das tschechische Tor, Tschechien verteidigt mit muž a myš und setzt ab und an ein paar Nadelstiche per Konter. Das Spiel ist das Gegenteil von spektakulär, ich höre, dass einige der anwesenden Gäste slowakisch sprechen, das unterstützt Suelas These vom Desinteresse der Tschechen am eigenen Nationalteam. In der Pause eilt Suela nach Hause ihre Brille holen, ein weiterer Gast erscheint, wir dürfen uns anschauen, wie Italien 1968 Europameister wurde, im Wiederholungsspiel gegen die Sowjetunion, falls mein Gedächtnis mich nicht trügt. Dann geht es weiter.
De Ligt macht den Sané
Zehn Minuten nach Wiederanpfiff kommen die entscheidenden Szenen des Spiels. Zunächst bricht ein niederländischer Stürmer durch den Abwehrriegel, mit einem tollkühnen Hechtsprung ficht ihm der tschechische Torwart den Ball vom einschussbereiten Fuß. Im Gegenzug rutscht de Ligt im Sprint mit seinem Gegenspieler weg und wischt diesem den Ball vor dem Strafraum mit der Hand vom Fuß: Ich springe auf, „klare rote Karte!“. Andere pflichten so lange bei, bis der Video-Assi einschreitet und den Schiedsrichter zwingt, die Höchststrafe auszusprechen: lebenslänglich, äh, also glatt rot. Der tschechische Stürmer, war es Schick?, wäre durch gewesen und alleine aufs Tor zugelaufen. Das ist der feine Unterschied zu Sanés Handspiel im Spiel Deutschland gegen Ungarn. Die Situation war ähnlich, doch hinter Sané waren noch andere Spieler, so dass er mit einer Verwarnung gut weggekommen ist. De Ligt muss aber runter, völlig zurecht, das sehen er, die niederländische Mannschaft und der Trainer auch.
Tschechien in Überzahl
So, Tschechien spielt eine gute halbe Stunde bzw. knappe Halbzeit in Überzahl. Ich zweifle noch, doch dann geht Tschechien in Führung, ausnahmsweise nicht Schick, sondern Holeš trifft per Kopf nach einer Standardsituation und einer schönen Kopfballverlagerung vor dem Tor, zwischen drei Niederländern durch, die auf der Torlinie postiert sind. Ob Tscheche oder nicht, wir jubeln. Wenig später kommt meine Tochter inklusive ihrer Mutter, sie hat einen schokoladenverschmierten Mund und nimmt mich gleich in Beschlag. Wir spielen Münze-zwischen-den-Tischbrettern-durchfallen-Lassen, Patrick Schick schießt sein viertes Turniertor und der Beweis ist damit erbracht: Tschechien kann Niederlande.
Guacamole, -mole, -mole
Ich wechsle zwei Terrassen weiter zum Fraktal, meine Tochter möchte Guacamole,- mole, -mole. Ich verständige mich mit Kellner Peter, was man am besten dazu nimmt, sie bekommt Quesadilla. Ihre Mutter kommt ebenfalls, steht dann verdächtig lange unten an der Bar. Ich begleite beide in die Wohnung, wobei ich schon merke, dass der Zustand der Mutter ins Bedenkliche kippt, mit dem Schlüssel meistert sie noch die Haustür, lehnt die Fahrt im Aufzug ab und stochert erfolglos an der Wohnungstür herum, die ich selbst öffne. Ich sehe, dass sie nicht mehr fähig ist, das Vorhaben, die Tochter zu baden, in die Tat umzusetzen. Ich beschimpfe sie, bis die (Krokodils-?) Tränen kommen, übernehme den Hygieneakt der Tochter selbst, setze sie den vor ihr Lieblingsprogramm auf Youtube und sage ihr, sie soll ins Bett gehen, wenn sie müde ist. Die Mutter liegt im Nebenzimmer und kann im Notfall auch angesprochen werden.
Belgien kontrolliert
Ich haste zurück ins Fraktal, wo ich noch eine offene Rechnung habe, die üblichen Verdächtigen informieren mich, dass ich in der ersten Viertelstunde nichts verpasst habe. Ich sehe mit eigenen Augen, wie Belgien das Spiel kontrolliert. „Die Mannschaft spielt seit Jahren zusammen, sie sind mannschaftlich besser als Portugal.“ Das ist sicherlich keine steile These und ich ernte allgemeine Zustimmung. Thorgan Hazard, den ich den anderen als „der kleine Hazard“ vorstellen muss, die kennen ja nur seinen Bruder Eden aus der Prmierleague, mittlerweile In Spanien tätig, knallt einfach mal den Ball aus etwa 20 Metern ins Netz. Unhaltbar sah der Ball nicht aus, aber die Flugbahn und Geschwindigkeit waren schon auch tückisch. Es ist das Tor des Spiels, Portugal kommt trotz Bemühungen nicht mehr heran, Christiano Ronaldo ist draußen, mit ihm der Titelverteidiger. Werden wir ihn, mittlerweile EM-Rekordtorschütze, in drei Jahren noch mal wiedersehen? Ich habe ihn bereits nach der letzten WM in Rente geschickt, mittlerweile bin ich mir da nicht mehr so sicher, zuzutrauen ist es ihm.
An der Rechnung, die ich begleichen muss, sehe ich gleich, hier ist noch etwas anderes als mein Bier und die Guacamole, da stehen noch ein paar Schnäpse. Gleich am folgenden Tag raunze ich die Mutter meiner Tochter dahingehend an und beschließe, im Fraktal klarzumachen: Diese Frau säuft nicht auf meine Rechnung.