Merzig/Prag - Tag 30: Bin immer noch im Land der Nibelungen. Treffe nachmittags einen mittel-entfernten Verwandten, der mich nicht nur durch seine profunden Kenntnisse über die Verhältnisse im Dorf überrascht.
Doch in einem irrt er sich, denn er prophezeit, dass Tim Borowski (der beste Ballack, den es je gab, siehe Tag 29) spielen werde. Auch er spielt nicht, darüber hinaus wird sich Robert „the Berlin Wall“ Huth (sprich: Hoss) später beim Aufwärmen verletzen.
Doch der Reihe nach. Ich hatte am Vortag eine Reportage über Südafrika gesehen. Das ist das Land, wo die strikte Trennung zwischen Schwarz und Weiß am längsten aufrecht erhalten wurde. Zum Schaden übrigens für die Nationalmannschaft, die von allen anderen Sportverbänden wie ein Aussätzigen-Team behandelt wurde. Dann kam Mandela aus dem Gefängnis, wurde gleich Nationaltrainer und die Mannschaft hat mindestens einen Africa-Cup gewonnen. Wenn nicht sogar einen ganzen Kasten Afri-Cola.
Ist Südafrika Kolumbien?
Gut, das sind ja alte Geschichten, neu ist, dass 2010 tatsächlich dort eine WM stattfinden soll. Das sollte sie 1986 in Kolumbien ebenfalls (das war übrigens eine der Fragen zur Zeit der Vorrunden-Gruppenspiele). Doch da die Kokain-Kartelle von Medellin und Cali einen blutigen Bandenkrieg begannen, stand der seinerzeitige Stadionneubau still. Und die WM wanderte nach Mexiko, wo man die Sportstätten von 1970 benutzen konnte. Damals wurden wir wieder nicht Weltmeister, verbesserten uns aber von Platz drei (1970) auf Platz zwei (1986).
Habe mich also die ganze Nacht gefragt, welches Ausweichland die WM von Südafrika übernehmen könnte. Dort gibt es ja nicht einmal eine Straßenbahn, geschweige denn eine U-Bahn. Auch soll die Kriminalität recht hoch sein und außerdem ist zur WM dort Winter. Brrr, die wollen doch keine WM im Schnee austragen, dann könnten die sich ja gleich zu den Olympischen Winterspielen anmelden.
Weltmeister 2010
Ich denke so intensiv darüber nach, weil die Sportfreunde Stiller ja in einem derzeit populären Suff-Punk-Stück fordern, dass wir dann dort den Titel holen. Mit dabei sind hoffentlich in der Verteidigung Per Mertesacker, Robert Huth, Philip Lahm, Marcel Jansen, im Mittelfeld Bastian Schweinsteiger und David Odonkor, Lukas Podolski im Sturm.
Die sind ja jetzt schon alle dabei, obwohl die fast noch A-Jugend spielen könnten. Das heißt also, dass dieselben Spieler in vier Jahren, vielleicht in Südafrika, wahrscheinlich aber woanders, immer noch eine verdammt junge Mannschaft bilden. Irre.
Munteres Vorspiel vor dem Höhepunkt
Nun, abends steht noch das kleine Finale, also das Spiel um Platz drei, also das von vielen als unnötigste Begegnung der WM bezeichnete Vorspiel vor dem Höhepunkt auf dem Programm. Wir spielen gegen Portugal und müssen sogar Ersatzleute für verletzte Ersatzleute aufs Feld schicken. Das führt dazu, dass alle Feldspieler mitmachen dürfen bei dieser WM. Am Ende sogar Jens Nowotny - der einzige Mensch, der schon Invalidenrente bezieht und dennoch ein WM-Spiel bestreitet - und Hitzelsperger. An dessen Vornamen kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern, vielleicht ist es Florian oder Valentin. Der hat ja selbst in der Bundesliga kaum gespielt.
Ich gehe in die City meines Herkunftsstädtchens und suche einen Public Viewing Point auf. Das ist so ein Platz, wo auf einer Leinwand das Geschehen vergrößert gezeigt wird für all die Menschen, die keine Karten für das Spiel selbst bekommen konnten. Also für die meisten der Normalsterblichen.
Titan Kahn kentert und sinkt
Olli Kahn macht sein hoffentlich letztes Länderspiel, auch Luis Figo, doch der verbringt einen ruhigen Abend und schaut sich das Geschehen unbeteiligt 80 Minuten auf der Bank an. Dann streift er lässig sein Ersatzspieler-Leibchen ab, nimmt noch ein Schlückchen Portwein und trottet auf den Platz. Kurz danach flankt er in seiner unnachahmlichen Weise von rechts genau auf den Kopf von Nuno Gomes, der dann prompt Titan Kahn den Abend versaut.
Uns, dem Publikum also, auf dem Public Viewing Point, nicht, wir sind in Gönnerlaune, denn wir führen ja schon Dreinull. Schweini hat zugeschlagen, zwei Mal selbst, ein Mal hat er den kleinsten Portugiesen mit dem französischen Namen Petit so angeschossen, dass der Ball ins Tor rein musste.
Wir sind zufrieden, schwenken noch mal unsere Fahnen und feiern weiter. Interessanterweise scheint niemand in ganz Deutschland den Text der Nationalhymne zu können - außer die Nationalspieler (bis auf Podolski).
Als das für meinen Geschmack zu getragene Stück erklingt, schwenkt zwar jeder seine Fahne, doch niemand singt mit. Dafür singen aber alle mit, als die neue Hymne erklingt, nach dem Spiel, dargeboten von einer lokalen Musikgruppe. Das Lied geht so: 54, 74, 90, 2010 und fordert - wie oben erwähnt, den Titelgewinn am Kap der guten Hoffnung - so es denn so sei.
Ein friedliches Fußballspiel geht damit zu Ende, in dem Cristiano Ronaldo nochmals seine ganze Klasse zeigen kann. Nein, auf´s Tor hat er wieder nicht getroffen, rein erst recht nicht. Dafür zeigte er den spektakulärsten Fehlpass des ganzen Turniers. Mit links täuscht er einen Schuss an, schießt den Ball jedoch gegen seine rechte Hacke, von wo er gezielt weit nach hinten prallt. Leider aber dem wartenden Miro Klose vor die Füße, der Richtung Tor davon zieht, doch in diesem Spiel nicht mehr trifft.
Egal, das Endspiel wird wohl eh langweilig, ohne Tore, Spaß und Esprit. Ach, Endspiel, für mich war das Spiel um Platz drei bereits der Höhepunkt. Kloses fünf Treffer sollten für die Torjägerkanone reichen. Immerhin etwas. Und dann eben 2010. Allez!, wie man bei uns im deutsch-französischen Grenzgebiet sagt.
Ihr deutscher WM-Beobachter in Prag in Merzig