Ein Spiel, in dem ein Tor entscheiden würde, fand ein dramatisches Ende, so findet Gerd Lemke.
Was für ein großartiger Nachmittag! Andy Schleck gewinnt im Schlussspurt die Bergankunft der zweithärtesten Alpenetappe, fünf Zentimeter vor seinem Gegner. Artig antwortet der Luxemburger auf alle Fragen auf Französisch, doch die letzte Antwort durfte er seinem Bruder, Frank Schleck widmen. Und das konnte natürlich nur auf Lëtzebuerschisch geschehen und da versagte natürlich jeder Dolmetscher – nicht aber ich. Sinngemäß, was nur wenige verstanden haben und deshalb um so persönlicher war: Er hat mir heute sehr gefehlt, normalerweise schaue ich mich immer nach ihm um, um mich an ihm zu orientieren, aber er war heute ja nicht da. (Denn er ist in Etappe eins und zwei, also direkt nach dem Prolog, so häufig gestürzt, dass er aufgeben musste.) Ihm hat im vergangenen Jahr nur eine einzige Sekunde zum gelben Trikot gefehlt, er war so dicht dran. Das will ich in diesem Jahr schaffen und das wird auch für Frank sein.
So, warum ich das verstanden habe, was kaum jemand verstanden hat? Et is doch kloar, dat sin jo oser Nopern, do kennt ma doch eis Sproch, et is jo dieselwischt.
Lëtzebuersch wor, äh war, zurück zu Hochdeutsch, bis 1890 offiziell ein Teil der Niederlande. Dazu muss man die Geschichte ein wenig besser verstehen und schon sind wir beim Thema, denn die Befreiungskriege gegen die spanische Vorherrschaft in den Niederlanden haben ja ein Gebiet freigesetzt, das ungefähr das heutige Benelux umfasst (lassen wir mal die Besonderheiten Eupen-Malmady und dergleichen weg). Dann haben sich die südlichen Niederlande 1815 von den nördlichen abgespalten und dies 1830 auch durchgesetzt. Daraus wurde dann das Sprachenstreitland Belgien (wie gesagt, lassen wir Eupen-Malmedy mal weg und ich glaube, das Bistum Lüttich/Liège/Luik hatte auch eine Zeit lang einen Sonderstatus), sowie im Norden die Niederlande, denen aber weiterhin auch Luxemburg unterstand. Deshalb haben beide Länder bis heute dieselbe Fahne, wobei das luxemburgische Blau etwas heller ist. Die Niederlande haben sich nicht groß um das kleine Land gekümmert und es 1890 in die Eigenstaatlichkeit entlassen. Wobei man das Großherzogtum/Grand duchesse de Luxembourg/Lëtzebuersch nicht mit der gleichnamigen Provinz in Belgien verwechseln sollte. Die Grenze wurde bei der Abspaltung der südlichen Niederlande, also Belgien, gezogen zwischen den französischsprachigen und den moselfränkisch sprachigen Luxemburgern.
Lëtzebuersch besitzt neben der niederländischen Fahne aber auch noch seine eigenen Farben, das ist ein roter Löwe vor einem weiß-blau gestreiften Hintergrund, und es gibt immer wieder Bestrebungen, nach der Sprache, die jetzt endlich standardisiert ist, auch die eigene Fahne einzuführen. Deshalb bin ich mir nicht ganz sicher, ob ganz Lëtzebuersch am Ende den Niederlanden die Daumen beim WM-Endspiel gedrückt hat. Ich denke aber schon, denn ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass die vielen Portugiesen, die in Lëtzebuersch wohnen, für Spanien waren.
Ich zumindest war es nicht, denn ich erinnere mich nur zu gut, was dieses Land, die Niederlande, einst für mich bedeutet hat, nämlich der Gegenentwurf zu Deutschland mit viel mehr Freiheit und viel weniger sozialer Kontrolle. Heute soll das ja alles ein wenig anders geworden sein, aber damals war dieses Land enorm wichtig für mich. Und das habe ich niemals vergessen, deshalb zog ich am Abend zum Spiel auch eines meiner zehn orangefarbenen T-Shirts an, nämlich dasjenige, das dem holländischen Oranje am nächsten kommt.
Ich stand in der Kneipe zwischen den Fronten, vor mir der Tisch mit den holländischen Anhängern, obwohl nur ein Holländer, dafür aber ein waschechter, anwesend war, hinter mir der Tisch mit den Spaniern, wobei der aus zwei Spaniern und vier einheimischen Opportunisten bestand.
Wer vor diesem Spiel guten, mitreißenden Fußball erwartet hatte, ist ein romantischer Träumer, es war vollkommen klar, dass ein einziges Tor entscheiden würde. Dass dies aber nach, na 117 Minuten fallen würde, konnte natürlich nicht einmal Krake Paul vorhersagen. Chancen gab es zuvor, eine glasklare hatte Arjen Robben, eine ebensolche ein Spanier, aber wer war das? War es Villa? Ich glaube nicht, aber egal. Das Spiel war derart mitreißend, dass ich mir jegliche Vergleiche mit den Endspielen von 1990 (schlechtestes Endspiel aller Zeiten) und 1994 (ein ziemlicher Langweiler) verbitten möchte. Zwei technisch und taktisch hochtalentierte Mannschaften lieferten sich einen Kampf auf Biegen und Brechen, bei dem – im Gegensatz zu vielen Meinungen am Tisch – der Schiedsrichter weitestgehend eine überzeugende Leistung ablieferte. Es war wahrlich nicht leicht, bei den hart geführten Zweikämpfen das Fingerspitzengefühl zu wahren und so dauerte es letztlich bis zur 110. Minute, bis die erste und einzige Hinausstellung erfolgte, gelb-rot für, na, wer war das denn noch, keiner der ganz bekannten holländischen Spieler. Dieser Platzverweis entschied das Spiel, denn dann hatten die Spanier ein Mal den Raum, den sie benötigten, ein einziges Mal, und Iniesta netzte ein. Der Mann, der selten Tore schießt, aber wenn er es tut, dann sind es wichtige. Die letzten fünf Minuten des Spiels sind geschenkt, Holland bäumte sich noch einmal auf, doch wir alle wussten: Das war’s. Das war das entscheidende Tor. Den einzigen Trost, den ich Rudi mit nach Hause geben konnte: Zwar nur zweiter, wieder nur zweiter, aber Hauptsache vor Deutschland.