Am Morgen lasse ich mir ausgiebig die Ereignisse von St. Etienne erzählen. Einer meiner Schüler kommt frisch aus Frankreichs Westen zurück. Die Atmosphäre war Klasse, höre ich. Das Spiel – na ja, die Tschechen eine Stunde lang ziemlich schlecht. Nur defensiv, nur reagierend, voller Angst. Mausetot, bringe ich ihm bei. Das waren sie. Mausetot. Doch dann standen sie wie aus dem Nichts wieder auf, unerklärlich. Mich interessieren die Sicherheitsvorkehrungen um das Stadion. Nicht übermäßig, normal. So gelang es auch einer kroatischen Fangruppe, eine Rauchbombe, bengalisches Feuer oder einen Brandsatz mit ins Stadion zu schmuggeln. Sehen konnte mein Schüler nicht genau, was passierte, er saß ziemlich weit weg von dieser Kurve, wo sich kroatische Fans untereinander prügelten. „Ich glaube, unserer Mannschaft hat die Unterbrechung eher geholfen.“ Bei der Aktion sei es um einen Protest gegen die korrupte Verbandsspitze gegangen, hatten die Kroaten später erklärt. Die Polizei habe bei der innerkroatischen Schlägerei nur zögerlich eingegriffen. Ein erhebender Moment war Rosickýs Abschied vor der Kurve. „So, wie er dort zu den Fans geklatscht hat, war uns klar, dass es sein Abschied war.“ Vom Turnier vorerst, was mit dem vielverletzten Mann weiter geschieht, ist offen.
Bestens vorbereitet und gebrieft
So, ich bin also bestens vorbereitet auf das entscheidende tschechische Spiel am Abend, in dem einzig ein Sieg weiterhilft. Doch zunächst betrachte ich noch die Vorspiele, Deutschland verschärftes Torschusstraining gegen Nordirland und Polens Sieg gegen die Ukraine. Dazu begebe ich mich ins Rieger-Park-Stadion, in dem übrigens kein Alkoholverbot herrscht. Schweinefleisch wird ebenfalls ohne besondere Kennzeichnung ausgegeben, auf Wunsch kann man sich auch andere Speisen kommen lassen, welche die Spieler gewöhnlich noch in der Kabine nach dem Spiel zu sich nehmen.
Schaue in Begleitung
Treffe den co-Autor vom zweiten tschechischen Spiel und Jung-Taxi-Unternehmer. Über das deutsche Spiel gibt es nicht allzu viel zu sagen. Jogi Löw hat Torschusstraining angeordnet und seine Offensivabteilung schießt auch in schöner Regelmäßigkeit auf den nordirischen Kasten, an denselben oder auf den Torwart. Mit Kimmich spielt diesmal ein offensiv denkender Spieler auf der rechten Außenbahn, Gomez sorgt für Wucht und Lufthoheit im Fünfmeterraum, Götze für Beweglichkeit und Müller für Verwirrung. Die Atmosphäre all der angereisten deutschen Schlachtenbummler ist so entspannt, dass sich keiner groß an den teils absurd vergebenen Großchancen stört. Nach einer halben Stunde trifft Gomez auch mal ins Tor, nachdem Müller vor dem Fünfer mit dem Ball quer gelaufen ist und die gesamte Abwehr samt Torwächter dadurch aufgerissen hat und klug auf den Torjäger schlechthin abgelegt hat. Irre, wenn Gomez spielt, trifft er. Warum manche Trainer ihn dann nicht spielen lassen, ist irgendwie eine Geheimwissenschaft.
Polen erfüllen die Pflicht
Polen schießt auch mal ein Tor, ich erkenne ein bekanntes Gesicht aus Dortmund als Torschützen. Doch auf dem Nebenschauplatz tut sich nicht viel, die Fans haben wenig Grund sich aufzuregen. Für die Ukraine ist das Turnier damit beendet. Na ja, ohne ein einziges Tor zu schießen schafft es halt nur Italien weiterzukommen. Und diese Zeiten sind auch schon etwas her.
Irgendwann schaltet die deutsche Mannschaft in den Freundschaftsspielmodus um. Sie spielen gepflegten Handball, nur eben mit dem Fuß, immer um den Kreis herum, bis sich eine gute Schuss- oder Flankenmöglichkeit bietet. Nordirland hat sich bereits ausgerechnet, dass man dieses knappe Ergebnis nur zu halten braucht, das reicht dann, um vor Albanien zu bleiben. Damit sind die Chancen auf ein Weiterkommen höchst realistisch. Und irgendwie kommen die in grüne gekleideten Herren aus Großbritannien damit tatsächlich durch. Irre, das Spiel hätte leicht 7:0 enden können. Mit beiden Ergebnissen sind auch die letzten Zweifel verscheucht, die Slowakei ist weiter dabei.
Dichte Atmosphäre
Dann wird es immer enger im Stadion, die Fans bereiten sich auf das tschechische Spiel vor. Wir, der Taxi-Jungunternehmer und ich, kleben an unseren Stühlen. Neben mir taucht ein traditionell gekleideter älterer Herr auf. Die Spannung steigt, von einem Tisch aus verteilt eine den tschechischen Fußball fördernde Brauerei Fan-Shirts mit einem klaffenden Löwenmaul, wahlweise in rot (eine der drei Nationalfarben) oder in Trauer-schwarz. Die Atmosphäre ist gut, die Fans gehen mit, Trainer Vrba hat seine Mannschaft offensiv aufs Feld geschickt. Tschechien versucht tatsächlich das Spiel aufzuziehen, es sieht wie moderner europäischer Fußball aus. Kein Angsthasenfußball sondern Torchancen, die Fans honorieren es, dass ihr Team sie diesmal unterhalten und nicht foltern will.
Dem älteren Herrn gehen die Nerven durch. Er putzt eine jüngere Person ordentlich herunter, die ihn hat warten lassen. Den Grund dafür kann ich nicht herausbekommen, vielleicht handelt es sich um eine Übersprungshandlung, denn die Türken schließen einen sauber kombinierten Angriff erfolgreich ab. Einige tschechische Fans honorieren diesen spielerischen Höhepunkt sogar. Es ist natürlich nicht angenehm, dem Rückstand hinterherzulaufen, denn es muss ja bekanntlich ein Sieg her. Doch der Abend ist angenehm und es ist ja nur Fußball und nicht Eishockey.
Türkei hofft
Die Osmanen, die sich nur dank eines winzigen Ausläufers Kleinasiens auf der westlichen Seite der Dardanellen und des Bosporus in Europa befinden, bekommen dank des zweiten Tores wieder festen Boden unter die Fußballwerkzeuge bei dieser EURO. Aus spitzem Winkel, wenn auch aus kurzer Entfernung feuert ein Türke das Leder, das aus Kunststoff ist, kompromisslos über Čech ins Netz. Der bekommt noch nicht mal mehr die Hände hoch um sich zu ergeben. Ein Grüppchen Türken hat die Stehplätze um den Grill fest in die Hand genommen und skandiert begeistert. Sollten die alten Fußballregeln gelten, hätte sich damit auch die Türkei vor Albanien geschoben und darf hoffen. Nordirland ist damit durch und sicherlich ein willkommener Achtelfinalgegner für jeden Gruppensieger.
Mein Mit-Zuschauer, der Jung-Taxiunternehmer, erklärt mir, er möge keine Dramen und habe bereits ein Taxi bestellt. Wir verlassen dass Geschehen kurz vor Schluss und erfahren nicht, ob es noch zu unschönen Szenen gekommen ist. Wir erfahren auch reichlich wenig über das Parallelspiel, das kurz vor Schluss auf einen überraschenden Sieg Kroatiens zusteuert.
An diesem Abend nehmen wir noch Kurs auf eine nachbarschaftliche Begegnungsstätte in unserem Wohnquartier, wo wir aber das Thema Fußball pietätvoll vermeiden. Ein Russe möchte uns zu einem Konzert am folgenden Tag im russischen Kulturzentrum überreden. Auch er umgeht das Thema Fußball nonchalant.
Fassen wir vor dem Ende der Vorrundenfolter mal zusammen. Raus sind Rumänien (zwei Tore durch Elfmeter), Russland (u.a. 0:3 gegen Wales), die Ukraine (ohne Torerfolg) und Tschechien (Niederlage gegen die Türkei nach artfremdem Fußball). Hoffen dürfen noch die Türken und Albaner. Schließlich spielen noch Schweden (kein Torschuss) und Irland einen Gruppendritten aus. Da ich mir absolut nicht vorstellen kann, dass Belgien gegen Schweden verliert und Irland mehr als ein Unentschieden gegen Italien holt, sehe ich dort den schlechtesten Dritten. Dann schließt noch die Portugal-Ungarn-Österreich-Island-Gruppe das Geschehen ab. Die Tabellensituation ist komplizierter. Ungarn hat vier Punkte, Portugal und Island haben zwei, Österreich einen. Ungarn ist auf jeden Fall weiter, nur von welcher Position ist unklar. Ein Unentschieden bringen Island und Portugal ebenfalls sicher weiter, Österreich kann sich durch einen Sieg auch noch qualifizieren. Wenn das alles durchgestanden oder ausgesessen ist, dann endlich kann man sich mit den Achtelfinalspielen beschäftigen.
Treffe am folgenden Morgen einen Bekannten auf der Straße, der mir seine interessante Sicht der Dinge erklärt. Er ist von der Qualität des tschechischen Spiels enttäuscht, zu viele Abspielfehler und dergleichen. Ich wende ein, dass seine Mannschaft doch endlich mal Fußball versucht hat, das war doch positiv. Wenn auch natürlich artfremd. Ja, artfremd, das fasst das böhmisch-mährische Eh Emm-Desaster am besten zusammen. So habe man das Spiel gegen die Türkei aufgefasst.