Das Nordböhmische Gewerbemuseum in Reichenberg zeigt bis zum 10. September 2017 in Zusammenarbeit mit den Verkehrsbetrieben der Städte Reichenberg und Gablonz sowie den Freunden der Reichenberger Straßenbahn - Boveraclub - die Sonderausstellung „120 Jahre Reichenberger Straßenbahn". Autor der am 15. Juni 2017 eröffneten Ausstellung ist Tomáš Krebs, Vereinsgründer und langjähriger Boveraclub Vorsitzender. Seit mehr als 20 Jahren ist er beim Verkehrsbetrieb in Reichenberg beschäftigt.
Die Ausstellung dokumentiert nicht nur die Geschichte des Reichenberger öffentlichen Stadtverkehrs seit 1897, sondern auch die Gegenwart. In der nordböhmischen Stadt unter dem Jeschken, die damals noch zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehörte, fuhr die erste elektrische Straßenbahn vom Hauptbahnhof zum heutigen Zoo.
Diese Strecke wurde am 25. August 1897 eingeweiht. Im darauffolgenden November wurde sie bis zum Gasthaus Volksgarten am nördlichen Stadtrand verlängert. 1899 wurde eine zweite Linie vom Tucherplatz bis in den damaligen Vorort Röchlitz verlegt und am 14. September jenes Jahres eingeweiht. 1904 kam eine Verlängerung bis Rosenthal hinzu. 1912 wurde die 5,7 Kilometer lange Linie nach Oberhanichen gebaut.
Das heutige Straßenbahnnetz besteht aus vier Linien mit einer Streckenlänge von 21,5 Kilometern. Die Besucher erwarten alte Fotografien, Filme, Ansichtskarten und weitere Exponate, die die Geschichte des städtischen Verkehrsbetriebes chronologisch dokumentieren. Darunter sind ein Modell des aktuellen Straßenbahndepots und Modelle der Straßenbahnen, die Fans - Erwin Cettineo und Gisbert Jäkl - bauten.
Das größte Modell ist eine Leihgabe des Technischen Nationalmuseums in Prag: ein mehr als zwei Meter langes Fabrikpräsentationsmodell der K1-Straßenbahn im Maßstab 1 :10. Da das Straßenbahnnetz in Reichenberg mit Gablonz verbunden ist, werden auch einige Gablonzer Exponate gezeigt. Dazu gehört die Busverbindung, die 1927 an die Straßenbahn angeschlossen wurde. Der erste Bus fuhr zwischen Ruppersdorf und Rathaus.
Der Boveraclub erweitert die Sammlung historischer Straßenbahnen systematisch. Die Besucher sehen nur einen Bruchteil der mehr als 10 000 Fotografien. Ein großer Teil stammt aus dem Archiv des Reichenberger Fotografen Erwin Cettineo (1903 — 1985), der überwiegend Straßenbahnen in Reichenberg und Gablonz fotografierte.
Zu fotografieren begann er mit zehn Jahren, als er eine Kamera zum Geburtstag bekam. Anfangs fotografierte er aus dem Fenster des Hauses, das dem Nordböhmischen Museum in Reichenberg benachbart war und in dem er wohnte. „Seine Bilder zeigen die Ereignisse in Reichenberg und die Veränderungen in der Stadt. Er fotografierte bis zu seinem Tod. Er hinterließ 10.000 Bilder", sagte Museumsdirektor Jiří Křížek. Cettineo dokumentierte die Entwicklung des Straßenbahnverkehrs in Reichenberg und im benachbarten Gablonz. Seine Fotos sind meist schwarz-weiß. Anfang der fünfziger Jahre machte er auch Farbbilder.
Leider fehlen die Negative aus der Zeit von 1939 bis 1945. Die hatte die tschechische Staatspolizei vernichtet. Weitere Fotografien wurden dank des 2009 verstorbenen Reichenberger Historikers Gisbert Jäkl gerettet. Die heute untypischen Formate von Negativen, Glasplatten und Filmstreifen sowie die Furcht der späteren Archivbesitzer, daß das Archiv beschädigt wird, veranlasste den Boveraclub 2012, das wertvolle Material in die Obhut des Nordböhmischen Museums zu geben. Dieses versprach den Spendern und den Reichenberger Bürgern, die Fotografien zu digitalisieren und zu veröffentlichen.
Nach Wiedererrichtung der Tschechoslowakei 1945 wurden aufgrund der Beneš-Dekrete alle deutschen Beschäftigten entlassen. Die deutsche Beschriftungen wurden entfernt. Auch der deutsche Direktor Anton Schlupek musste den Reichenberger Verkehrsbetrieb 1946 verlassen. Eine neue Anstellung fand er bei der SWU Verkehr GmbH in Ulm.
Abgesehen von der Absicht, die historischen Straßenbahnen zu präsentieren, hat die Ausstellung einen wichtigen Nebeneffekt. Die Fotos zeigen auch die Wandlungen der Stadt Reichenberg. Diese waren tiefgreifend bezogen auf die Vertreibung der deutschen Bevölkerung und die dadurch schwierige Situation der Stadt, die von 1938 bis 1945 Landeshauptstadt war.
Ab 1990 wurden die Stadtlinien zum Teil auf die Regelspur von 1435 Millimeter umgestellt. Reichenberg besitzt heute die letzte Schmalspur-Straßenbahn in der Tschechischen Republik.
Die Bahn mit einer einspurigen Schmalspur von 1000 Millimetern mit Weichen zieht Menschen aus der ganzen Welt an, die sich für städtischen Verkehr interessieren. Für Gäste aus Europa, Amerika, Rußland und Japan wurden Sonderfahrten mit der historischen Straßenbahn organisiert. Mit dem Umbau dieser Straßenbahnlinien wird dieses System bald verschwinden.
Straßenbahnen findet man heute nur noch in wenigen Städten der Tschechischen Republik. Reichenberg hat eines von acht Straßenbahnnetzen. Weitere Straßenbahnen findet man in
- Brünn: 1435 Millimeter Spurweite, 70,2 Kilometer Länge, Eröffnung 17. August 1869;
- Oberleutensdorf — Brüx: 1435 Millimeter Spurweite, 18 Kilometer Länge, Eröffnung 7. August 1901;
- Olmütz: 1435 Millimeter Spurweite, 15 Kilometer Länge, Eröffnung 1. April 1899;
- Mährisch Ostrau: 1435 Millimeter Spurweite, 34,55 Kilometer Länge, Eröffnung 1. Mai 1901;
- Pilsen: 1435 Millimeter Spurweite, 16,9 Kilometer Länge, Eröffnung 29. Juni 1899;
- Prag: 1435 Millimeter Spurweite, 142,7 Kilometer Länge, Eröffnung 23. September 1875.