Deutschland gilt als Musterschüler Europas. In 70 Jahren hat sich das Land von einem postfaschistischen (und zwischenzeitlich geteiltem) Staat in eine wiedervereinigte moderne Demokratie gemausert. Alte, aus dem Dritten Reich und der Kaiserzeit übernommene Paragraphen, wie der §175 (StGB) oder §218 (StGB), der den Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellte, schienen der Vergangenheit anzugehören. Besonders stolz ist man auf das Grundgesetz und den dort verankerten Grundrechten wie beispielsweise Art 5(1): „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. […] Eine Zensur findet nicht statt.“ Nicht zuletzt wegen seiner unveräußerlichen Grundrechte soll das deutsche Grundgesetz jungen afrikanischen Demokratien als Vorbild dienen.
Gesetzesvorhaben bestätigt bestehende Ängste
Nun kam ausgerechnet aus Deutschland ein Vorschlag ins EU-Parlament, wonach sämtliche ins Internet hochgeladenen Inhalte, die dem Einflussbereich des Internetbereiches unterliegen, das zur EU gerechnet wird, einer Vorabkontrolle durch automatisierte Filtersysteme unterzogen werden sollen. Aus Sicht des EU-Parlamentariers Axel Voss von der konservativen CDU der Bunderepublik Deutschland, der auch die Kanzlerin Angela Merkel angehört, soll hier aber keine politische Zensur stattfinden, sondern lediglich das Urheberrecht von Künstlern geschützt werden. Kritiker, allen voran die Piratenparteien der verschiedenen europäischen Länder, sehen hier aber eine Zensur unter dem Deckmantel eines scheinbar unpolitischen Paragraphen. Gewinner würden hierbei Großkonzerne, monopolisierte Zeitungsunternehmen und öffentlich-rechtliche, aber auch staatliche Fernseh- und Radiosender sein. Das Gesetz gibt Verschwörungstheoretikern, EU-Gegnern und Anti-Merkel-Aktivisten weitere Nahrung, da es bestehende Ängste zu bestätigen scheint.
Der Standard: „Vater" des neuen EU-Urheberrechts hält Verbot von Youtube für denkbar - ‚Wir müssen darüber nachdenken, ob diese Art von Geschäft existieren sollte‘, sagt Axel Voss, Chefverhandler des EU-Parlaments“
Prager „Kaffeehaus-Intellektuelle“ sehen Gesetz kritisch
In Tschechien, wo ein Großteil der Medien unter dem Einflussbereich des Premierministers Andrej Babiš steht, sehen Vertreter der sog. und vom Präsidenten Miloš Zeman kritisierten „Kaffeehaus-Intellektuellen“ Axel Voss´ Gesetzesvorhaben, nämlich den Art. 13 der Urheberrechtsreform, als Stützung bestehender Machtverhältnisse. Auch in Italien, wo der ehemalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi Mehrheitsanteilseigner an zahlreichen Medien ist, sehen Kritiker den Art. 13 problematisch. Berlusconis Medien hätten dann einen Monopolanspruch über die Deutungshoheit im Internet. In Deutschland argumentiert man mit der „Grundversorgung“ durch die öffentlich-rechtlichen Medien im Internet und deren Professionalität.
Wikipedia will sich aus Protest für einen Tag abschalten
Europäische Bürger waren sich vielleicht noch nie so einig wie bei diesem Thema. Von Spanien bis nach Estland sehen Blogger, freie Journalisten, Schriftsteller, Podcast-Akteure und sog. Youtuber ihr Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gefährdet und wollen deshalb am 23. März, also in weniger als 7 Tagen einen europäischen Aktionstag gegen den Art. 13 der Urheberrechtsreform starten. Die Online-Enzyklopädie Wikipedia will sich am 21. März aus Protest gegen das Gesetzesvorhaben für einen Tag abschalten und fordert ihre Leser auf, sich an den Straßenprotesten zu beteiligen. In ganz Europa, so auch in mehreren Städten Tschechiens sollen die Menschen gegen die Einführung der geplanten Filtersysteme (Upload-Filter) demonstrieren. Veranstalter rechnen mit Hundertausenden in der ganzen EU. Denn Ende März soll auch im EU-Parlament die letzte Hürde für das Gesetz fallen und über die sog. Upload-Filter abgestimmt werden. In Europa gibt es wohl viele Menschen, die gegen den Art 13 sind. Im EU-Parlament dürften die Gegner der Novelle aber die Minderheit darstellen. Das beeindruckt die EU-Parlamentarier wenig. Der aus Bayern stammende Manfred Weber von der deutschen CSU bestätigte gegenüber dem deutschen Fernsehsender ARD: "Die Abstimmung über dieses Urheberrecht findet Ende März statt, so wie geplant, und wird auch nicht geändert werden."
Demos gegen Art. 13 und Upload-Filter in Tschechien:
Prag
23. März 2019, 14 Uhr, Palackého náměstí, 120 00 Prag, Organisator: Česká pirátská strana
https://www.facebook.com/events/259571161641706/
Ústí
23. März 2019, 14 Uhr, Lidické náměstí, 40001 Ústí nad Labem, Organisator: Česká pirátská strana
https://www.facebook.com/events/472249346644163/
Plzeň
23. März 2019, 14 Uhr, náměstí Republiky, 301 00 Plzeň, Organisator: Česká pirátská strana
https://www.facebook.com/events/303550550361944/
Liberec
23. März 2019, 14 Uhr, náměstí Soukenné, 460 01 Liberec, Organisator: Česká pirátská strana
https://www.facebook.com/events/437383286804811/
České Budějovice
23. März 2019, 14 Uhr, náměstí Přemysla Otakara II., 370 01 České Budějovice, Organisator: Česká pirátská strana
https://www.facebook.com/events/304697620200778/
Pardubice
23. März 2019, 14 Uhr, náměstí Republiky, 530 02 Pardubice, Organisator: Česká pirátská strana
https://www.facebook.com/events/428677854577638/
Jihlava
23. März 2019, 14 Uhr, Masarykovo náměstí, 586 01 Jihlava, Organisator: Česká pirátská strana
https://www.facebook.com/events/273131100267361
Brno
23. März 2019, 14 Uhr, náměstí Svobody, 602 00 Brno, Organisator: Česká pirátská strana
https://www.facebook.com/events/821535901515770/
Ostrava
23. März 2019, 14 Uhr, Masarykovo náměstí, 702 00 Ostrava, Organisator: Česká pirátská strana
https://www.facebook.com/events/785022298521530/
Übersichtsseite über alle europaweiten Demos gegen den Art. 13:
https://savetheinternet.info/demos
Update: 20.03.2019
Wie gerade bekannt wurde, soll neben Prag und Ústí auch in anderen Städten gegen Upload-Filter demonstriert werden.
Die Orte und Informationen dazu wurden dem Text hinzugefügt. Außerdem wurde das untenstehende Video dem Text hinzugefügt.
Update: 21.03.2019
Wie nach Redaktionsschluss bekannt wurde, stellte Axel Voss in einem Interview mit der deutschen Welle die Plattform Youtube als solche infrage. Der entsprechende Link zum österreichischen Standard wurde dem Artikel hinzugefügt.