Die Europäer waren vielleicht noch nie näher an einer europäischen Einheit dran, als am vergangenen Samstag. 200.000 Menschen gingen in Europa auf die Straßen und zeigten in diesen vom Nationalismus, Protektionismus und von demagogischen Polarisierungen beherrschten Zeiten politisches Rückgrat. Mehr als 5 Millionen unterzeichneten eine Online-Petition gegen die geplante (und mittlerweile beschlossene) Urheberrechtsreform, gegen den umstrittenen Artikel 13 und die daraus resultierenden Upload-Filter, die eine Vorzensur hochgeladener Inhalte erst möglich machen. Weitere tausende, noch nicht vollständig ausgezählte, Unterschriften wurden in Papierform am selben Tag an den Protestständen in Europa gesammelt. Das „Nein“ der Menschen war unüberhörbar. Mit der heutigen Votierung des EU-Parlaments zur Billigung der Urheberrechtsreform inkl. der Art. 11 und 13 haben die Brüsseler Parlamentarier vor allem eines den Europäern zu verstehen gegeben. Was auch immer ihr sagt, es kümmert uns nicht.
Wann soll man die Sorgen der Menschen ernst nehmen?
Doch dabei hieß es noch in den letzten Jahren – nach dem Sommer 2015 –, man „solle die Sorgen der Menschen ernst nehmen“. Was lerne ich daraus? Wenn es also um rechte Proteste gegen Flüchtlinge und Ausländer in Deutschland (aber auch anderswo in Europa) geht, dann muss man also „Verständnis für die Sorgen der Menschen“ haben. Wenn aber ein wesentlich größerer Teil der Bevölkerung sich zu demokratischen Werten bekennt und friedlich demonstriert, dann fällt gewählten Volkstretern (!) von der konservativen CDU Deutschlands nichts Besseres dazu ein, als Verschwörungstheorien von angeblich gekauften Demonstranten zu verbreiten. Natürlich wieder einmal über das „Organ für Wahrheitsfindung“ der deutschen Presse, der Bild-Zeitung, die seit Heinrich Bölls Blum-Erzählung und Günter Wallraffs „Aufmacher“ bekanntlich für deutschen „Qualitäts-Journalismus“ steht. – Wohl eher nicht!
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Was steckt hinter dem Kuhhandel-Vorwurf „Gas gegen Upload-Filter“?
Dass die EU-Parlamentarier wieder einmal bezeugt haben, dass ihnen der Wählerauftrag nicht einen Pfifferling wert ist, ist eine – wenngleich auch beschämende – Sache. Eine andere – vielleicht noch beschämendere ist das Verhalten von Axel Voss und seiner Parteigenossen. Insbesondere dann, wenn – vorausgesetzt die im jüngst erschienenen FAZ-Artikel geäußerten Vorwürfe entsprechen den Tatsachen und derzeit habe ich keinen Grund vom Gegenteil überzeugt zu sein – es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Upload-Filter, den Wünschen der französischen Regierung, die ohnehin mit massenhaften Protesten der Gelb-Westen in den letzten Monaten zu kämpfen hatte und dem Bau der Gas-Pipeline Nord Stream 2 geben sollte.
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Whistleblower auf der Flucht, Journalisten erschossen, aber Upload-Filter für die Rettung der Demokratie
Als ob all das nicht schlimm genug wäre, haben insbesondere Frankreich und Deutschland die komplexen medienpolitischen Verflechtungen in Mittel-, Ost- und Südeuropa ebenfalls offenbar völlig ignoriert. Seit Monaten dauern in Prag Massendemonstrationen gegen den Premierminister an, bei denen tausende Tschechen gegen die Monopolisierung ihrer Medien protestieren.
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Die wirtschaftliche Lage der Presse sei katastrophal, sagte der französische Liberale Jean-Marie Cavada. Deshalb sei die geplante Reform die einzige Chance, die Zukunft von Kreativen zu schützen. Denn mit der Presse sei „ein Teil der Demokratie in Gefahr“.
Die Lage der Presse in Europa ist in der Tat katastrophal, aber nicht so, wie Cavada es uns glauben machen will. Entweder werden Journalisten in der Slowakei kaltblütig im eigenen Haus abgeknallt oder auf Malta durch eine Autobombe zerrissen, während in Deutschland die Staatsmacht tatenlos zusieht, wie Journalisten bei Demonstrationen von Pegida & Co bedroht, tätlich angegriffen und ihre Kameras zerschlagen werden. Gerade in solchen Zeiten, braucht es die vierte Säule der Demokratie in Form einer offenen und freien Medienlandschaft und keine Hofberichterstattung weniger Monopol-Zeitungen wie zu Zeiten des Kalten Krieges, die dem vermeintlich unmündigen Leser erklären, was der Unterschied zwischen links und rechts und gut und böse ist.
Mit der Abstimmung im EU-Parlament zur Urheberrechtsreform nähren die Parlamentarier vor allem einen Verdacht. Nämlich, dass ihnen diese Zusammenhänge entweder völlig egal oder völlig unbekannt sind. Wahrscheinlich ist wohl eher das erstere. Denn man kann nach dem 26.03.2019 annehmen, dass sie sich eher den Großverlagen, den Monopolisten und fragwürdigen Politikern ihres Landes verpflichtet fühlen, anstatt den freiheitlich-demokratischen Grundwerten der Europäischen Union.
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Der moralisch erhobene Zeigefinger gegen China, Türkei und Ägypten
Wie oft haben die etablierten europäischen Medien, allen voran die Gebühren finanzierten, in den letzten Jahren auf zensiertes Internet, auf Filter (!), in China und der Türkei mit dem erhobenen Zeigefinger hingewiesen? Wie groß war der Aufschrei, als während des Arabischen Frühlings plötzlich das Internet in Ägypten abgeschaltet wurde und die Demonstranten sich nicht mehr über die Sozialen Medien absprechen konnten? Was soll ich also jungen Leuten aus diesen Ländern sagen? Dass anderswo Filterpraktiken, Vorzensur und juristische Keulen Methoden diktatorischer Regime sind, aber bei uns retten wir damit die Demokratie und schützen Urheberrechte?
AfD sieht sich als „Anwalt“ der freien Netzgemeinde
In seinem tagesschau-Interview sagte der Netzexperte Sascha Lobo, dass diese Filter auch schnell zum Aussortieren von unliebsamen politischen Inhalten im Netz umfunktioniert werden können. Das hat natürlich auch die AfD schon längst erkannt und nutzt das Thema für die eigenen wahlpolitischen Zwecke.
Auch mir sind Hass und Hetze im Netz zuwider. Aber all diese Entgleisungen zeigen vor allem eines: Dass nämlich in den letzten Jahrzehnten die Vermittlung demokratischer Werte in den Schulen und an den Universitäten in Europa sträflich vernachlässigt wurde. Man holt diese Versäumnisse nicht dadurch wieder auf, indem man den Leuten das Wort entzieht. Demokratie lebt vom Diskurs.
Als Angehöriger der schreibenden Zunft und Mensch mit einem gewissen Bildungsniveau, versuche ich mir Zusammenhänge mit belastbaren Beweisen mühsam zu erarbeiten und immer wieder neu zu überdenken. Das ist mein Job! Es gibt aber eine nicht geringe Anzahl an Menschen in der EU, die ihren grauen Zellen diese Arbeit nicht zumuten wollen oder können und stattdessen an Verschwörungstheorien glauben und Demagogen nachlaufen. Was also kann man diesen Leuten nach solch einer Abstimmung und dem vorliegenden Hintergrundmaterial (FAZ u. a.) entgegensetzen? In Brüssel sitzen gute Demokraten, die auch noch in Ländern wie Ungarn, Polen, Tschechien, der Slowakei oder Italien die Freiheit des Wortes mit ihrem Herzensblut verteidigen würden? Mit Catherine Stihler gesprochen: „Something is not right here!“
Prag, 27.03.2019
Konstantin John Kowalewski