Fragt man Kulturjournalisten welche Dichter in Prag lebten, so werden durchgängig drei Namen zitiert, nämlich Franz Kafka, Rainer Maria Rilke und Franz Werfel. Doch Prag hat mehr hervorgebracht als lediglich drei - wenngleich ohne Frage großartige - Dichter. Kafka, Rilke und Werfel sind im Grunde die heutigen Galionsfiguren einer literarischen Bewegung, zu der mehr als 120 deutschsprachige Schriftsteller zählten und von denen Max Brod bereits 1966 in seinem Erinnerungswerk „Der Prager Kreis“ berichtete.
Originaltext: „Die Rückverwandlung des Gregor Samsa“, im Prager Tagblatt vom 11. Juni 1916, S. 18
Karl Brand war einer von ihnen und er wäre wahrscheinlich auch gänzlich unbekannt geblieben, wenn er sich nicht in einem seiner Texte auf die „Verwandlung“ von Franz Kafka bezogen hätte. Allein der Titel verrät Brands genialen literarischen Schachzug, der da lautet: „Die Rückverwandlung des Gregor Samsa“. Umso enttäuschender ist die Textlänge. Gerade mal vier Seiten ist der Text des expressionistischen Autors lang, der am 11. Juni 1916 im „Prager Tagblatt“ erschien. Während in der Kafkaschen „Verwandlung“ der Käfer Gregor Samsa eines Morgens zu Tode „krepiert“ ist, wie die „Bedienerin“ gegen Ende des Textes verkündet, erwacht in der Brandschen „Fortsetzung“ Gregor Samsa auf einem „Kehrichthaufen“ und beginnt sich auf unerklärlicheweise zu einem Menschen zurückzuverwandeln. Am Ende der rückläufigen Metamorphose und auch des Textes heißt es:
„Und Gregor Samsa erhob sich und ging. Seine Schritte waren langsam, aber fest und unerbittlich. Und als er zu den ersten Häusern der Stadt gelangte, schrieen ihm die Häuserzeilen zu:
‚Ein neues Leben beginnt!‘ “
Überdeutlich spricht aus diesen Zeilen Brands Hunger nach einem sorgenlosen Leben in einem gesunden Körper, denn während er diese Zeilen zu Papier brachte, lief seine eigene Lebenszeit unerbittlich ab. Es war auch das Jahr 1916, als eine Lungentuberkulose bei ihm diagnostiziert wurde, also genau die Krankheit, an der später auch Franz Kafka starb. Gespürt haben musste Brand schon lange die ständigen Fieberschübe und Schweißausbrüche, denn in einem Brief an Antonín Macek (tschechischsprachiger Journalist, Schriftsteller und Dichter: 17. Juni 1872 Mladá Boleslav – 22. Mai 1923 Prag) schrieb Karl Brand:
„Ich liеß mich untersuchen [...]. Die Diagnose ist -- Tuberkulose!!! Ich habe längst gеwußt, daß ich tuberkulös bin, aber doch glaubte ich nicht recht daran. Nun habe ich die furchtbare Gewissheit. Ich verzweifle nicht. Ich will mich nun schonen, wenn mir noch Schonung nützt.“
In einer Zeit, vor der Entdeckung des Penicillins, schlug eine solche Nachricht gleichsam einem Todesurteil ein. Die Tuberkulose ist es auch, weswegen der Autor sich selbst das Pseudonym „Brand“ gab. Mit bürgerlichen Namen hieß er Karl Müller.
In diesem Haus in der Prager Brückengasse (Mostecká ulice) starb am 17.03.1917 jung und unbekannt der Dichter Karl Brand. Foto: Kountouroyanis
Was macht eigentlich Karl Brands Rückverwandlungstext so interessant? Bevor Karl Brand seine eigene „Rückverwandlung“ niedergeschrieb, musste dieser mit Sicherheit „Die Verwandlung“ von Franz Kafka gelesen haben, die 1912 entstand und erstmals im Oktober 1915 in der von René Schickele herausgegebenen Zeitschrift „Die weißen Blätter“ erschien. Die heute viel bekanntere Erstausgabe in Buchform erschien bei Kurt Wolff im Dezember 1915 in der Reihe „Der jüngste Tag“. Viel Zeit jedenfalls blieb Karl Brand nicht, denn die schnell fortschreitende Tuberkulose sollte ihn bereits in weniger als 10 Monaten dahinraffen. Umso erstaunlicher ist seine Produktivität. Karl Brands „Rückverwandlung“ ist also nur einer von vielen Texten, die der junge Autor schrieb. Ein weiterer Text Karl Brands („Novelle im Traum“) ist 2015 im deutsch-tschechischen Band in der von Lukáš Motyčka und Barbora Veselá hrsg. „Anthologie der deutschmährischen Literatur“ erschienen. Doch die Nähe zur Kafkaschen „Verwandlung“ macht Brand auch aus heutiger Sicht enorm interessant. Vergleicht man außerdem Karl Brands Familienverhältnisse mit denen des bei Kafka beschriebenen „Gregor Samsas“, so fallen frappierende Ähnlichkeiten auf. Hier wie dort lässt sich bereits auf den ersten Blick ein junger Mann finden, der der eigenen Familie eine Last aufbürdet und somit für sie unerträglich ist. Sein Tod wäre ein Befreiungsschlag für die Familie. Dies lässt sich an Gregor Samsas Familie recht einfach konstatieren. Bei Karl Brand ist es seine schwere Lungenkrankheit, die enormen Kosten für die medizinische Behandlung und die ohnehin bescheidenen Verhältnisse der Familie auf der Prager Kleinseite. Karl Brand lebte in dem Gebäude, das heute mit der Hausnummer 1 in der Mostecká (nahe Malostranské náměstí) steht und in den Geschichtsbüchern mit „Palais am Kleinseitner Ringplatz“ beschrieben wird.
Lukáš Motyčka/Barbora Veselá (Hrsg.): Anthologie der deutschmährischen Literatur / Antologie německé moravské literatury. Univerzita Palackeho Olomouc 2014, dt. Band 590 Seiten/tsch. Band 526 Seiten, ISBN: 978-80-244-4225-9
Die Lebensumstände um 1917 waren für die Familie alles andere als palaisartig. Nach den Erinnerungen des ehemaligen Prager Tagblatt-Korrespondenten und Mitglied des Pressebeirats der Deutschen Botschaft Prag sowie den Recherchearbeiten des Literaturwissenschaftlers Hartmut Binders („Prager Profile - Vergessene Autoren im Schatten Kafkas“, Berlin 1991) soll Brands Vater nachts in einer Bäckerei gearbeitet, die Mutter sich als Zugehfrau und Wäscherin betätigt und seine Schwester in einem Advokatenbüro gearbeitet haben. Vergleicht man diese Familienverhältnisse mit denen der Familie des „Gregor Samsas“, so findet man in der Tat erhebliche Übereinstimmungen. So heißt es z. B. in der „Verwandlung“ wortwörtlich: „[...] die Mutter nähte, weit unter das Licht vorgebeugt, feine Wäsche für ein Modengeschäft; die Schwester, die eine Stellung als Verkäuferin angenommen hatte, lernte am Abend Stenographie und Französisch, um vielleicht später einmal einen besseren Posten zu erreichen.“ Dass sich Karl Brand selbst als „Parasit“ der Familie sah, bezeugt eine interessante Textstelle in dem „Vermächtnis eines Jünglings“ [hrsg. von Johannes Urzidil mit einem Vorwort von Franz Werfel. Strache, Wien/Prag/Leipzig 1920 [recte 1921] (Klaus Reprint, Nendeln 1973)], in der er selbst die Erklärung dafür gibt, warum die Schwester des Protagonisten es vermeidet ihren Freund nach Hause zu bringen. „Mein Gehuste könnte ihn abschrecken. Alle arbeiten meinetwegen, denn ich bin ja der Parasit, der das Geld aufzehrt, das man zurücklegen oder sinnvoll verbrauchen könnte. Ich liege da oder krieche herum, wanzen- und mistkäferartig und zu nichts gut.“ (Nebenbei sei angemerkt, dass Karl Brands eigene Schwester tatsächlich es vermied, ihren Freund mit nach Hause zu bringen.) Von hier aus ist es nur noch eine „Sprungmarke“ zu Gregor Samsa entfernt, der „eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte“ und „sich zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“ in seinem Bett wiederfindet. Die Frage, wer wen literarisch beeinflusste, scheint auf den ersten Blick klar erkennbar zu sein. Für einen vom Tode Gezeichneten könnte die „Rückverwandlung“ geradezu als Hoffnung auf eine wundersame Heilung einer zum damaligen Zeitpunkt unheilbaren Krankheit verstanden werden. Doch Hartmut Binders Forschungen zeigen, dass es sich nicht ganz so einfach verhält. Auch Franz Werfel beschrieb in seiner 1931 erschienenen Erzählung „Kleine Verhältnisse“ Zustände des Unterschichtenmilieus. Johannes Urzidil war es dann, der in seinem Nachwort darauf aufmerksam machte, dass Werfel mitunter auch die Verhältnisse der Familie Brand in der Erzählung charakterisiert habe.
So könnte Karl Brand ausgesehen haben.
Dr. Lukáš Motyčka von der Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur in Oloumoc (Olmütz) merkt an, dass die Zeichnung nach historischen Quellen und Berichten nachempfunden wurde.
Bildautorin: Jarmila Opletalová / Quelle: Archiv der Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur
In einer Textstelle heißt es bei Werfel: „Ich wеiß ja, daß ich hier der Niemand bin! Ich weiß ja, dаß ich von euch nur geduldet und ausgehalten werde! Ihr seid zu gar nichts verpflichtet. Jeder Bissen, den ich esse, würgt mich. Aber alles wird anders werden. Ihr sollt noch staunen.“ (Franz Werfel: Der Tod des Kleinbürgers und andere Erzählungen, 3. Aufl., Frankfurt/Main 1981, S. 225) Vielleicht hatte Kafka mit der „Verwandlung“ nie beabsichtigt, seine eigenen Familienverhältnisse zu beschreiben und Generationen von Deutschlehrern und Literaturwissenschaftlern hätten sich gründlich geirrt. Vielleicht war Franz Kafka von Karl Brands Schicksal und seinen Familienverhältnissen so ergriffen, dass er mit der „Verwandlung“ im Grunde nur versuchte ein junges Genie und seinen Lebensweg vorweg zu beschreiben, das von seiner Familie missachtet wurde und dem es nie vergönnt war, nach Kairo zu reisen, was sich Karl Brand zeitlebens gewünscht hatte, sondern stattdessen jung und unbekannt in einem kalten und feucht-modrigen Haus auf der Prager Kleinseite am 17. März 1917 an einer unheilbaren Krankheit dahinzusiechen.
Konstantin Kountouroyanis, 17.03.2017
Artikellink: http://prag-aktuell.cz/blog/karl-brand-die-rueckverwandlung-des-gregor-s...
Der o. g. Text wurde bereits, allerdings in stark abgeänderter und gekürzter Form, in der Prager Zeitung am 16. Juli 2015 auf Seite 18 veröffentlicht.