Der tschechische Diplomat, Übersetzer und Schriftsteller, Tomáš Kafka, sowie der Leiter des jüdischen Museums Prag, Tomáš Kraus, reisten kürzlich in die nordrhein-westfälische Stadt Solingen, um an einer zweitägigen Konferenz über verfolgte Kunst und Künstler teilzunehmen, die anlässlich des 80. Geburtstags Jürgen Serkes vom 19. bis zum 20. April des Jahres im „Zentrum für verfolgte Künste“ stattfand. Konstantin Kountouroyanis traf Tomáš Kafka am Vaclav Havel-Flughafen und begleitete ihn auf der Anreise zur Konferenz, an der auch er als Besucher teilnahm. Ein Bericht über eine Tagung mit einem außerordentlich aktuellen Zeitbezug, die unter dem Titel „Verantwortung kennt kein Zögern“ stattfand.
Journalist, Buchautor und Jubilar Jürgen Serke.
Foto: Kountouroyanis
Als der ehemalige Stern-Journalist Jürgen Serke 1987 in seiner Buchveröffentlichung unter dem Titel „Böhmische Dörfer – Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft“ die Schicksale und Lebenswege von 47, bis dahin unbekannten, deutschsprachigen Autoren veröffentlichte, sorgte er damit für enormes Aufsehen in der bundesdeutschen Presselandschaft. Euphorisch titelte die ZEIT im Erscheinungsjahr „Bewundernswert und ärgerlich zugleich - Wer kennt Camill Hoffmann oder Georg Mannheimer, Hans Natonek oder Peter Kien?“ Mit seiner Arbeit beschämte Serke die germanistische Zunft, denn der Reporter hatte in akribischer Klein- und Archivarbeit sowie durch Interviews mit damals noch lebenden Zeitzeugen die Lebenswege und Biographien der Autoren rekonstruiert, die nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die Tschechoslowakei der Vergessenheit anheimfielen. Autoren wie der aus dem böhmischen Städtchen Podiebrad stammende Bezruč-Übersetzer Rudolf Fuchs mussten emigrieren und starben im Exil. Andere Autoren, wie Georg Kafka (ein entfernter Verwandter Franz Kafkas) oder Camill Hoffmann starben in Konzentrationslagern. 2017 erhielt Jürgen Serke den Preis „Gratias agit“, der sein Wirken als Autor der „Böhmischen Dörfer“ ehrt. Der Preis wird seit 1997 vom tschechischen Außenminister für die Verbreitung des Ansehens der Tschechischen Republik im Ausland verliehen.
Direktorin der Kunstsammlung Yad Vashem in Jerusalem Eliad Moreh-Rosenberg
Foto: Kountouroyanis
Wie wird man sich in 50 Jahren an die Shoa erinnern?
1987 konnte Serke noch Zeitzeugen befragen und ihre Aussagen dokumentieren. 2018 sieht die Situation ganz anders aus. Wie wird man sich erinnern, wenn es bald keine Zeitzeugen des Holocausts, der Flucht, der Vertreibung und der NS-Diktatur mehr gibt? „Wird die Erinnerung an die Katastrophe des letzten Jahrhunderts musealisiert?“ schickte die Veranstaltungsbroschüre als Frage voraus, zu der der bereits eingangs erwähnte Dr. Tomáš Kraus, die Direktorin der Kunstsammlung Yad Vashem in Jerusalem Eliad Moreh-Rosenberg, der Osnabrücker Professor für Migrationsforschung Christoph Rass, der Direktor des Museums on Seam in Jerusalem Raphie Etgar, die ehemalige Staatsministerin (Bündnis 90/Grünen) Sylvia Löhrmann, die Kuratorin des MOCAK Museum der Gegenwartskunst in Krakau Delfina Jalowik sowie der aus Damaskus stammende deutsch-syrische Künstler Manaf Halbouni in der zweiten Podiumsdiskussion des ersten Tages Stellung bezogen, die vom Kurator des Zentrums Jürgen Kaumkötter moderiert wurde. Ein hochkarätiges Team, das über die Frage der Erinnerungskultur vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und eines erneuten, europaweiten Aufflammens rechts-nationaler Kräfte sowie einer sich stark ändernden Gesellschaftsstruktur debattierte. Kann man in einer immer inhomogeneren Gesellschaft überhaupt noch von einer kollektiven Erinnerung an Flucht und Terror sprechen? Seit Jahren tobt ein erbarmungsloser Krieg in Syrien, aber auch in vielen anderen Ländern der Welt. Auf die schwierige Frage, welche Bedeutungen die heutigen Konflikte für die zeitgeschichtlichen Institutionen haben und inwieweit sie sich einmischen sollten, schlugen die Referentinnen und Referenten verschiedene Antworten vor.
Aktionskünstler Manaf Halbouni versucht Menschen aus ihrer politischen Lethargie zu reißen.
Foto: Kountouroyanis
Mit provokanter Aktionskunst gegen die Gleichgültigkeit
Der Künstler Manaf Halbouni stellte seinen Versuch einer Einmischung in den gesellschaftlichen Diskurs vor. Als er sah, wie Menschen eine Straße im zerstörten Aleppo mit drei hockant gestellten Buswracks verbarrikadierten, um Heckenschützen die Sicht zu nehmen, kam ihm die Idee zu einer Aktionskunst vor der Dresdner Frauenkirche. Er ließ dort ebenfalls drei Busse mit Kränen hochkant aufstellen. Die Botschaft ist klar: Die Folgen von Krieg, nämlich das durch Flucht, Vertreibung und Terror erlittene Leid trägt zumeist die Zivilbevölkerung. Was hat also die Welt aus zwei globalen Kriegen gelernt? Kann das Leid von Dresden mit dem von Aleppo verglichen werden? In Dresden jedenfalls rief das Monument massive Proteste hervor. Rechte Gruppierungen machten Stimmung gegen das Kunstwerk, u. a. auch mit Laien-Berichterstattungen auf Youtube, in denen sie behaupteten, dass die Busse in Aleppo von einer islamistischen Terrormiliz aufgestellt worden seien und das Monument in Dresden daher als Denkmal für den islamischen Terror stünde. Es sei ein „Denkmal der Schande“, urteilten Dresdner Passanten in dem Video. Eine verstörende Nähe zum AfD-Poliker Björn Höcke ist nicht zu übersehen. Dresdens Oberbürgermeister erhielt massive Morddrohungen. Wie also kann man Menschen in Zeiten eines wachsenden, auch in Tschechien vertretenen, Rechtspopulismus noch erreichen?
Rechts im Bild: Verleger Thedel von Wallmoden (Wallstein Verlag)
Foto: Kountouroyanis
„Verfolgte damals – Verfolgte heute“
Als am 10. Mai 1933 die Nationalsozialisten in Deutschland mit der „Aktion wider den undeutschen Geist“ zahlreiche Bücher verbrannten sowie außerdem unter dem Begriff „entartete Kunst“ zahlreiche Bilder entfernten, Musikwerke und ihre Schöpfer verfolgten, wollten sie eines zu allererst erreichen: Die Ausradierung der Künstler und ihrer Werke aus dem kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft. 85 Jahre nach den Ereignissen auf dem Berliner Opernplatz lud im März dieses Jahres ein sog. „identitäres Zentrum“ in Halle an der Saale zu einer Veranstaltung unter dem Titel „Bilderstürmer – Kunst wider den Zeitgeist“ mit dem in Frakturschrift versehenen Untertitel „Wehrt Euch“ ein.
Workshop am zweiten Tag der Tagung: Raphie Etgar (Direktor des Museums on the Seam Jerusalem, rechts im Bild) im Gespräch mit Gästen.
Foto: Kountouroyanis
Dieses „Déjà-vu-Erlebnis“ verdeutlich die enorme Bedeutung und zugleich Aktualität auch von Jürgen Serkes erstem Band „Die verbrannten Dichter“ von 1977, der 2002 neu aufgelegt wurde. Neben dem damals noch unbekannten Alfred Döblin, porträtierte er u. a. auch Else-Lasker Schüler, Ernst Toller, Irmgard Keun sowie 9 weitere Autoren, deren Werke während des Dritten Reiches beschlagnahmt, verboten und verbrannt wurden. Diesem Band widmete sich die dritte Podiumsdiskussion am 19. April, an der Dr. Tomáš Kafka, der Kulturjournalist und Autor Prof. Hans Haider, der Direktor der Internationalen Filmfestspiele in Berlin Dieter Kosslick, die Autorin Dr. Hazel Rosenstrauch, der Literatursammler Ralf Wassermeyer sowie die Verleger Klaus Schöffling (Schöffling & Co) und Thedel von Wallmoden (Wallstein Verlag) teilnahmen. Die Historikerin und Moderatorin Eva Berger stellte die Frage, welche Bedeutungen diese Dichter für uns heute haben? Was können wir aus ihren Lebensläufen und Schicksalen heute lernen und was können junge Menschen daraus lernen, die keine Zeitzeugen mehr befragen können? Problematisch ist sicherlich auch, dass insgesamt der Anteil der lesenden Bevölkerungsschichten in Deutschland, aber auch europaweit in den letzten zwei Jahrzehnten enorm zurückgegangen ist, was sicherlich nicht nur dem Internet, sondern auch dem Abbau von Bildungsstrukturen sowie zahlreichen sozialen Umwälzungen geschuldet sein dürfte. Das Fundament einer mündigen und demokratischen Gesellschaft muss ständig erneuert werden. Dafür braucht es Zeit und Geld. Die Dauerausstellung „Literatursammlung Jürgen Serke „Himmel und Hölle 1918 bis 1989“ im Erdgeschoss des Zentrums für verfolgte Künste soll ein erstes Angebot für Schulklassen, Studiengruppen und Interessierte sein.
Aktionskünstler und Buchautor Wolfram P. Kastner ruft am 10. Mai zur öffentlich Lesung aus "verbrannten Büchern" auf.
Foto: Kountouroyanis
Doch wie stellt man als Lesemedium gedachte Bücher aus? Darauf fand der Münchner Künstler und Buchautor Wolfram P. Kastner am zweiten Tag der Tagung während eines von zwei Workshops eine interessante Antwort, indem er auf das von ihm ins Leben gerufene Projekt „München liest – aus verbrannten Büchern“ hinwies. Am 10. Mai dieses Jahres soll auf dem Münchner Königsplatz, also dem Ort, wo vor 85 Jahren Bücher von Oskar Baum, Max Brod, Sigmund Freud, Willy Haas, Leo Perutz, Egon Erwin Kisch, Franz Kafka und vielen anderen Autoren verbrannt wurden, aus ihren Werken öffentlich vorgelesen werden. Um 10 Uhr will Kastner dann mit einem Bunsenbrenner auf dem Rasen des Königsplatzes einen großflächigen Brandplatz erstellen, damit „kein Grass über die Geschichte wächst“, wie er selbst anmerkt. Wie in den Jahren zuvor erwartet Kastner zahlreiche Schüler und Studenten, aber auch Menschen aus anderen Teilen der Gesellschaft, die abwechselnd 5 Minuten aus einem der selbst gewählten Bücher laut vorlesen. Für seine Aktionskunst hat Kastner allerdings nicht immer Beifall geerntet. Als er 2003 beispielsweise auf dem Salzburger Kommunalfriedhof einen Trauerkranz für die Waffen-SS sah, schnitt er die Schleifen mit dem Spruch „Zum Gedenken – den gefallenen Kameraden der ehem. Waffen-SS“ ab und schickte sie dem österreichischen Bundespräsidenten mit der Aufforderung dem braunen Treiben ein Ende zu machen. Im vorauseilenden Gehorsam leitete die Münchner Staatsanwaltschaft gegen Kastner ein Verfahren wegen Sachbeschädigung ein. Das Verfahren zog sich bis zum Oberlandesgericht, das Kastner zu einer Geldstrafe verurteilte, da ein „besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung“ zugrunde läge. Eines von Kastners bislang bekanntesten Projekten war „Die Spur der Bücher“, die ebenfalls an die Bücherverbrennung von 1933 erinnert und mittlerweile im gleichnamigen Band 2002 dokumentiert ist. Auch hierfür wurde Kastner aus konservativen Kreisen gescholten. Im Grunde, merkte ein Teilnehmer an, kann man unsere Diskussion auf die einfache Formel bringen: „Verfolgte damals – Verfolgte heute“.
„Literatursammlung Jürgen Serke Himmel und Hölle 1918 bis 1989“ im Erdgeschoss des „Zentrums für verfolgte Künste“. Eine Ausstellung zu verfolgten, verbannten und letztlich verbrannten Dichtern.
Foto: Kountouroyanis
„Wir lesen all´ diese Dichter, als wären sie noch unter uns“
In einem weiteren, englischsprachigen, Workshop, in dem zahlreiche Gäste aus Israel, Tschechien, Syrien, Deutschland, Österreich und dem Sudan vertreten waren, wurde die gleiche Frage auf internationaler Ebene diskutiert. Für Tomáš Kafka, der in dieser Gruppe vertreten war, ist es im Grunde kein Problem der Datenlage – auch wenn es noch zahlreiche Lücken gibt, seien doch viele Biographien rekonstruiert und Bücher neu aufgelegt – es mangele seiner Ansicht nach vor allem am Engagement.
Journalist, Cartoonist und Schriftsteller Talal Nayer im Gespräch.
Foot: Kountouroyanis
Tatsächlich erinnern die Entwicklungen der ersten und zweiten Dekade des neuen Jahrtausends zusehends an die 20er Jahre des 20. Jahrhundert. Flucht- und Migrationsbewegungen haben weltweit einen Höhepunkt erreicht, während sich in weiten Kreisen der europäischen Bevölkerung eine Gleichgültigkeit und Verständnislosigkeit gegenüber den Schicksalen der Flüchtlinge wie auch den Fluchtursachen konstatieren lässt. Die Lektüre der „Verbrannten Dichter“ könnte zu einem Verständnis sowohl der eigenen Geschichte, als auch der aktuellen Situation beitragen, denkt auch der mehrfach ausgezeichnete Lyriker Hasan Alhasan aus dem zerstörten Aleppo, der nur wenige Stuhlreihen vom tschechischen Diplomaten saß und sich zu Wort meldete. Nach seiner Inhaftierung 2015 war Alhasan 2015 die Flucht mit Frau und Tochter nach Deutschland gelungen. Zu Jürgen Serkes Arbeit merkt er an: „Wir lesen all´ diese vergessenen Dichter, als wären sie noch unter uns. Man tötete sie, aber ihre Worte bleiben unsterblich.“ Die Schicksale dieser Autoren, wie u. a. Franz Werfel, Hans Janowitz oder auch Thomas Mann, dem bis zu seiner Flucht in die USA in der Ersten tschechoslowakischen Republik Asyl gewährt wurde, erinnern Alhasan stark an seine eigene Situation; denn auch für ihn ist der Verlust seiner Muttersprache problematisch. Doch seine Texte werden auch auf Deutsch mittlerweile gelesen und neben einem Einführungsseminar in die arabische Lyrik plant er ein Buch über seine Flucht zu schreiben.
Mehrfach ausgezeichneter Lyriker Hasan Alhasan aus dem syrischen Aleppo.
Foto: Kountouroyanis
Am Ende der Veranstaltung bat ich Tomáš Kafka um ein kurzes Statement zu den „Verbrannten Dichtern“. Mich interessierte die Frage, wie er die letzten 100 Jahre Literaturgeschichte in Deutschland und Mitteleuropa bewertet, ob er Parallelen zwischen 1918 und 2018 sieht, ob noch weiterer Forschungsbedarf bestünde oder was heute seiner Ansicht nach getan werden müsse. Er antwortete mir mit einigen handgeschriebenen Zeilen, die er mir mit den Worten „Das ist für Sie.“ übergab. Dann verschwand er in Richtung Flughafen.
„Einst waren Bücher oft verbrannt,
bekämpft, beschimpft, verdrängt,
dafür sind sie nun elegant,
im Schweigen still ertränkt.“
(Tomáš Kafka)
Prag, 08.05.2018, Konstantin Kountouroyanis
Artikellink: https://www.prag-aktuell.cz/blog/wir-lesen-all-diese-dichter-waeren-sie-...