Prag - Einmal brach ich mir das Bein, es war das schönste Erlebnis meines Lebens.
Selten hat ein Zitat eines großen Schriftstellers stärker jegliche Bemühungen erübrigt, einen knackigen Einleitungssatz für eine Rezension zu finden. Davon müssen auch Gotthart Kuppel und Ingo Ahmels überzeugt gewesen sein, denn sonst hätten sie es kaum als Titel ihres feinen Programms zu einigen Textauszügen von Franz Kafka genutzt. Die Textcollage um das Kernstück, die Erzählung "Der Jäger Gracchus" herum, belebte Ahmels durch vielseitige Klavierbegleitung, die sich vom Atmosphärischen über das Klassische bis zum Populären bewegte. Zusammen mit der Örtlichkeit, der Nebenraum des Tagungssaals des Prager Goethe-Instituts, ausgestattet mit einem famosen Blick am Nationaltheater vorbei auf die Prager Burg Hradschin, ergab sich ein Übriges, um einen höchst stimmungsvollen Abend in intimer Atmosphäre zu bieten.
Die Geschichte des Jägers Gracchus gehört zu den typisch merkwürdigen Erzählungen des Prager Weltliteraten. Im Städtchen Riva, wo Kafka selbst einen Urlaub verbrachte, legt in der trägen Hafenatmosphäre eine Barke an. Zwei Männer tragen eine Leiche auf einer Bahre ans Land, doch niemand scheint davon Notiz zu nehmen. In diese scheinbare ruhige Genreschilderung bricht das Unerhörte ein. Der Bürgermeister des Ortes trifft in den zur Trauer bereiteten Raum eines nahen Hauses und beginnt eine Unterhaltung mit dem plötzlich zum Leben erwachten Toten. Dieser sagt solche bemerkenswerten Sätze wie "Seitdem bin ich tot", gleich danach "gewissermaßen lebe ich auch". Diese Konstellation würde sich nun wunderbar für eine Schauererzählung eignen, doch das ist sicherlich nicht Kafkas Absicht gewesen. Denn auch der Bürgermeister kann mit Unerwartetem aufwarten. Ihm hat in der Nacht eine Taube, groß wie ein Hahn, die Ankunft des Toten, gewissermaßen Lebendigen, bereits angekündigt.
Kafka versieht seine ansonsten hochnüchtern geschilderte Erzählung mit phantastischen Elementen, ohne dass diese jemals in der Form auseinanderbräche. "Ich hatte gerne gelebt und war gerne gestorben", erklärt der Jäger Gracchus. Dann jedoch hat der Fährmann seines Todeskahns das Ziel verfehlt und seitdem irrt der Bruder solcher Gestalten wie des fliegenden Holländers oder die Gespenster auf dem Geisterschiff ruhelos auf der Erde herum. Ob er in Riva bleiben wolle, fragt der Bürgermeister. Doch darauf erhält weder er noch der Bürgermeister eine eindeutige Antwort.
Kuppels und Ahmels haben es in kongenialer Weise geschafft, diese Doppelgesichtigkeit der Vorlage in einer klanglichen Melange von Wort und Instrument beizubehalten. Dank Professor Manfred Weinberg von der Forschungsstelle deutsch-böhmischer Literatur am Institut für germanische Studien an der Karls-Universität Prag kam die Heimatstadt Franz Kafkas in den Genuss dieses bisher selten aufgeführten Ereignisses, das im Rahmen der Fachtagung zu Franz Kafka aus interkultureller Sicht am 2. Dezember stattfand. (gl)
Flügel-Klänge und Lesung
Musikalisch-Literarische Soirée mit Ingo Ahmels und Gotthard Kuppel
Goethe-Institut Prag, 2. Dezember 2016