Es ist zu spät. 9:05 Uhr. Stau auf der Autobahn A66 Richtung Frankfurt am Main. Im Kofferraum gefühlte 100 Trillionen Liter Gepäck. Pullover, T-Shirts, Schuhe. Fotos, Romane, meine grün-weiß gestreifte Kochschürze. Parkplatz in Sicht, Sprint Richtung Gleis. Ich sitze im ICE 1557.
Mein Sitznachbar riecht nach Aftershave und verspricht mir sechs Mal vorwurfsfreies Aufstehen bis Weimar. So langsam dämmert mir, was es bedeutet, dass ich in die Bahnagentur marschiert und mein Ticket gefordert habe: „Einmal Prag, One-Way bitte!“
Ich beginne, grüne Quadrate auf dem lilablauen Sitzbezug zu zählen. Alle schief. 10:16 Fulda. „Haben Sie auch nichts vergessen?“ Ein Regenschirm-Emblem, gesetzt aus roten LEDs leuchtet auf. Die Frage, ob ich das Relevante nun in den Trillionen Litern untergebracht habe, beschäftigt mich bis Eisenach. Es ist ruhig im Großraumwagen. Wo bleiben die typischen Unterhaltungen unter Ausflüglern? Wo ist die „Tante Gerda“ oder „Michelle und Karl-Heinz“? Es wird nicht gelacht, kein Kind schreit.
Sitz-Hopper weichen neuen Fahrgästen aus, suchen nach nicht-reservierten Plätzen. Zeitungen werden gelesen. SMS geschrieben. Es ist grün, die ersten Kühe tauchen auf. Grauer Himmel wölbt sich über gelbe Baustellenfahrzeuge. Nebelschwaden. Tannenwipfel. 112 Kilometer pro Stunde. Und doch fühlt es sich an wie 40 auf einer freien Landstraße.
Zerfallene Scheunen. Pechschwarze Rinder. Die Felder werden weitläufig. Auch wer die Teilung Deutschlands nicht miterlebt hat ahnt, dass hier etwas anders war. Kulturbahnhof Weimar. Die sechs Freitritte meines Nachbarn habe ich nicht gebraucht. Ich klebe in meinem Sessel fest, versucht, alle Eindrücke aufzusaugen wie Omas Staubsauger. Leipzig, Riesa, Dresden.
„Güten Tag, wie könn’ isch ihnen hölfen?“ Schnell bemerkt auch die nette Bahnangestellte: Hier ist etwas anders „No, Sie höben öber viel Gepöck dabei.“ Ja. Ein halbes Jahr. Eingequetscht in 48 mal 66 mal 35 cm. Gläserner Aufzug. Aufenthalt. Erste Zweifel. Und der Moment: „Wieso mache ich das hier eigentlich?“ Es ist diese seltsame Frage, auf welche die meisten Erasmus-Studenten nach wenigen Stunden empfindlich reagieren, ganz gleich welcher Kultur, welchen Fachs, welcher Abstammung. Stille. Ich esse eine Karotte. Japanische Touristen tummeln sich am Bahnsteig. Es ist 15 Uhr.
Der Eurocity kommt aus Berlin, vier hohe Stufen. Zwanzig Minuten brauche ich, bis mein Gepäck sicher verstaut ist. Abteilwagen. Blaue Samtvorhänge. „Im Namen der tschechischen Bahnverkehrsaktiengesellschaft heißen wir Sie willkommen.“ Bitte was? Vorbei an Fabriken. Heruntergekommenen Scheunen. Häusern mit Plumpsklo. Ein Wiener Ehepaar ist auf dem Heimweg, zurück vom erholsamen Urlaub an der Ostsee und leistet mir Gesellschaft. „Wie viele Einwohner hat Dresden?“, fragen sie. Ich druckse verlegen herum.
Die Elbe ist grau und müde. Die Wälder färben sich langsam rot und gelb. Es wird Herbst. Vorbei an Decin und Usti nad Labem. Und dann Prag. Ich bin am Ziel. Am Ziel? Prag One-Way. Wir danken Ihnen im Namen der tschechischen Bahnverkehrsaktiengesellschaft.