Montag, 24. November 2014
Liebster,
eine Enttäuschung hielt Prag allerdings nun doch für mich bereit und dabei eine gänzlich unerwartete. Heute machte ich mich endlich auf in den Ortsteil Smichov auf der anderen Moldauseite, um die Villa Bertramka zu sehen. In diesem Haus, das ehedem dem Ehepaar Dusek gehörte, wohnte Mozart während seiner Besuche in Prag 1787 zur Uraufführung seines „Don Giovanni“ und 1791 zu „La clemenza di Tito“. Josepha Dusek war eine Bewunderin und Gönnerin des Komponisten und stellte ihm das weitläufige Anwesen der Villa Bertramka mit großem, parkartigem Garten als Rückzugsort zur Verfügung, damit er seine Oper „Don Giovanni“ zu Ende komponieren konnte, was ihm in der Hektik der Stadt zwischen dem Hotel und den bereits laufenden Proben wohl nur schwer möglich war.
Mozart nahm das Angebot von Josepha Dusek an und verbrachte fernab des lärmenden Stadt- und Theaterbetriebs eine Zeit auf dem ehemaligen Weingut, das damals wirklich weit außerhalb lag.
Um die Villa Bertramka ranken sich seither einige hartnäckige Legenden, deren Wahrheitsgehalt nicht mehr zu überprüfen ist. Mozart soll dort gut gearbeitet und in der Nacht vor der Premiere des „Don Giovanni“ schnell noch die Ouvertüre komponiert haben. Man sagt ihm eine Liebschaft mit seiner Gönnerin nach, ebenso, dass sich Giacomo Casanova einige Male zu Besuch in der Villa aufgehalten habe, da er zeitgleich in Prag war, und dass Casanova und Mozart sich in der Bertramka begegnet seien.
Der deutsche Autor Hanns-Josef Ortheil hat über diese Zusammenhänge einen Roman geschrieben, „Die Nacht des Don Juan“. Er war auf die Idee dazu gekommen, nachdem er die Räume und die Ausstellung in der Villa Bertramka besucht hatte. Denn heute befindet sich dort selbstredend ein Mozart-Museum. Die damals genutzten Wohnräume sind museal zugänglich, auch Mozarts Arbeitszimmer mit dem Cembalo, an dem er komponiert haben soll. Ja, das wollte ich natürlich unbedingt sehen und es sollte für mich im Stillen einer der Höhepunkte meiner Prager Besichtigungstouren werden.
Mein Reiseführer warnte zwar vor dem etwas miefigen „Dornröschenschlaf“, in den der liebliche Ort gefallen sei, seit die Prager Mozart-Gemeinde das Anwesen übernommen habe. Doch dieser Führer hat inzwischen etwa gleichviel Recht und Unrecht behalten, und da er außerdem die tägliche Öffnungszeit des Museums zwischen 10 und 17 Uhr vermerkt, machte ich mich ganz sorglos und voller Vorfreude auf den Weg.
Harald Salfellner schreibt in seinem schön detailreichen, gut recherchierten und reichlich bebilderten Buch „Mozart und Prag“ zwar, dass die Landschaft in der Umgebung der Villa sich im Laufe des 19. Jahrhunderts grundlegend wandelte und die Vorstadt Smichov sich zu einem rasch aufstrebenden Industrieviertel entwickelte, das bald schon einen Kranz von Fabriken und Schloten rund um den Landsitz legte, „der wie eine Insel der Ruhe aus dem Lärm des Gewerbegebiets ragte. Heute sind diese Fabriken, so sie noch bestehen, längst selbst zu Anachronismen geworden, die im Vergleich zur gesichtslosen Industriearchitektur der Gegenwart oder dem aufdringlichen Glaspalast einer Hotelkette in unmittelbarer Nähe der Bertramka fast anmutig wirken.“
Soweit Harald Salfellner, dessen eindeutige Warnung, die man aus diesen Worten herauslesen konnte, ich ebenfalls in den Wind schlug. Ich bin halt ein Kind vom romantischen Mittelrheintal und in den letzten Jahren habe ich zudem so viele inspirierende Dichter- und Musikerstätten im Osten Deutschlands, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR besucht, die alle nach der Wende wunderbar restauriert wurden und sehr gepflegt werden, so dass ich dachte, ein Ort, wo Mozart seinen „Don Giovanni“ beendet hat, könnte all das mit Leichtigkeit überflügeln.
Die Metro spuckte mich an der Station Andel in eine turbulente Geschäftsstraße und zudem mitten hinein in einen verfrühten Weihnachtsmarkt vor der Station. Smichov ist heute ein Viertel irgendeiner modernen, gesichtslosen Großstadt und ich sehnte mich sofort in die Prager Altstadt zurück. Hier in Smichov war ich plötzlich atmosphärisch irgendwo zwischen Köln und Stuttgart gelandet. Doch links in der Ferne machte ich einen grünen Hügel aus, vielleicht sogar einen Weinberg. Also ließ ich die vielfältigen Gerüche der Glühwein- , Kerzen- und Seifenstände hinter mir und machte mich auf den Weg.
Buchstäblich auf Schritt und Tritt wurde es schlimmer. Autobahnzubringer kreuzten die Hauptverkehrsstraße, bald wusste ich gar nicht mehr, wo man denn als Fußgänger entlanglaufen sollte. Zwischen abbruchreifen ehemaligen Fabrikgebäuden, stark befahrenen Verkehrsadern, Dönerläden, Baustellen und abbruchreichen Häusern mit leeren Fensterhöhlen gelangte ich endlich die kopfsteingepflasterte Auffahrt zur Bertramka hinauf. Schon von weitem sah ich, dass das große Eingangstor des Anwesens geschlossen war. Doch es gab eine kleine Tür daneben. Zu. Ich rüttelte am Tor. Ich klopfte. Ich las das schmuddelige Schild an der Mauer, das auf das Museum hinwies. Immerhin, ich war also richtig. Die darauf gedruckten Öffnungszeiten waren mit einem Zettel überklebt worden, darauf stand: Täglich 10-16 Uhr. Ich schaute ungläubig auf meine Armbanduhr. 13.30 Uhr. Dann stieg ich den Treppenweg links neben dem Tor hinauf, an der Außenmauer des Anwesens entlang, in der Hoffnung, eventuell von hinten irgendwo Einlass zu finden. Die mit Graffiti besprühte hohe Wand ließ keinen Blick in den Park dahinter zu. Im Haus hinter der Mauer war, soviel ich erkennen konnte, alles dunkel, es rührte sich nichts. Eine kleine, seitlich in die Mauer eingelassene Tür nahe des Hauses war von Spinnweben überzogen und sicherlich seit Jahren nicht mehr geöffnet worden sein. Kurz darauf konnte ich ein Schild hinter der Mauer erkennen: „Souvenirs“. Aha, da hatte es also mal was gegeben. Lange vorbei, wie mir schien.
Der Weg bergauf erwies sich als ergebnislos. Man gelangte in eine dahinter liegende Siedlung, die Geräusche eines belebten Schulhofs waren zu hören. Die Mauer knickte ab hier und zog sich rechts herum weiter. Die Größe des dazugehörigen Parks war daher jedenfalls ungefähr zu ermessen. Irgendwo in diesem Park soll eine Mozart-Büste stehen, habe ich gelesen.
Ich ging zurück, hinunter zum Tor. Wie ich jetzt erst sah, war das Anwesen auf der rechten Seite nur von einem sehr morschen, teils abgebrochenen Jägerzaun auf einer kleinen Betonmauer begrenzt, so dass man mir wenigstens einen Blick auf das Gelände erlaubte. Das große Tor, an dem ich gerüttelt hatte, war von hinten mit einem Holzstock gesichert. Der Weg zum Haus lag voll mit Laub und machte einen recht verwahrlosten Eindruck. Oberhalb konnte ich die Villa liegen sehen. Auf dem Weg hinauf saß eine schwarzbraune Katze und putzte sich ausgiebig. Sie schien das einzige lebende Wesen hier zu sein. Der Geist von Mozarts Katze, musste ich automatisch denken. Ich schoss einige Fotos über den Jägerzaun hinweg, vom Haus und vom Garten. Die Katze blieb unbeeindruckt. Dann machte ich mich auf den Rückweg zur Metrostation.
An einer roten Ampel mitten im Verkehrsgewirr, stand ich länger, bis ein Passant mich auf Tschechisch ansprach. Er drückte auf den Knopf für die Ampelanlage, den ich vorher gar nicht bemerkt hatte. Die Ampel sprang auf grün. „Ah“, murrte ich schlecht gelaunt. „English?“ fragte er. „Yes.“ „You must do that, otherwise the light will do nothing.“ Ich nickte. „Where do you come from?“ „Germany.“ „Hamburg?“ „No. Frankfurt.“ Er konnte meine Antwort nicht verstehen, der Autolärm war zu laut. „Aha“, sagte er deshalb. Wir gingen gemeinsam bis zur nächsten Kreuzung. Eigentlich bestand die Straße, soweit man sehen konnte, nur aus Kreuzungen. „I wanted to see the Mozart-Museum“, sagte ich. „But it’s closed.“ Er lachte und nickte. „Yes, there are not many tourists in Prag at the moment.“ Ich gab ein Knurren von mir. Dann hatten wir die nächste Kreuzung erreicht. Er bog nach links ab, ich ging nach rechts.
„Nur hinter der Mauer des ehemaligen Weingutes kommt noch eine Ahnung von der Stille und Poesie auf, die Wolfgang Amadeus Mozart hier gefunden haben mochte“, schreibt Salfellner. Möglich. Ich kann Mozart nur wünschen, dass er für sich und seine Musik hier ein Refugium gefunden hatte. Eine Inspiration, wie sie Hanns-Josef Ortheil vor Jahren an diesem Ort zuteil wurde, war mir heute jedenfalls nicht annähernd vergönnt. Ob nun gerade viel oder wenig Touristen in der Stadt sind, Mozart bleibt doch immerhin Mozart. Hat die Bertramka vielleicht nur montags geschlossen? Oder nur sonntags geöffnet? Oder zwischen November und März gar nicht? Ich werde es nicht erfahren. Bleibt nur, mir vorzustellen, wie es vielleicht einmal gewesen ist. Doch das war ohne den realen Anblick dieses traurigen Anwesens ehrlich gesagt leichter. Es gibt Momente, in denen beflügelt die Wirklichkeit die Phantasie überhaupt nicht. Vielleicht ist etwas von der Kraft dieses Ortes tatsächlich noch hinter den Mauern zu spüren. Vor den Mauern ist jedenfalls alles ausgelaugt, so leer und hässlich wie das, was Menschen aus Orten und Landschaften eben machen, wenn man sie gedankenlos immer weiter wurschteln lässt.
Heute findet man Mozart in Prag nur noch als Silhouette eines Schattenrisses. Einbeinig dirigierend, wie ein Eiskunstläufer, fliegt er über T-Shirts, Tassen und Postkarten hinweg, maßgeblich in Pink. Zu seinen Lebzeiten haben die Prager Mozart jedenfalls geliebt. Bei allem, was er in Salzburg und Wien erleben musste, war Prag für ihn ein Segen. Das ist doch ein Trost. Und neben den beiden Opern für Prag hat er uns außerdem noch die „Prager Sinfonie“ hinterlassen. Von alledem weiß die Katze im Vorgarten der Bertramka nichts. Oder am Ende doch?
Der Weihnachtsmarkt vor der Metrostation hatte mich wieder. Nun war der Moment gekommen, endlich die süße böhmische Spezialität zu probieren, die in Prag an fast jeder Straßenecke angeboten wird. Trdelnik. Diese für mich unaussprechliche Süßigkeit sehe ich seit Wochen überall, ein rundes Gebäck aus Hefeteig mit gemahlenen Mandeln und Vanille, getaucht in Zimt und Zucker. Es wird an langen Spießen auf dem offenen Holzfeuer gebacken. Der oder das Trdelnik schmeckte warm, süß, hefig und ein bisschen zu trocken. Adieu Smichov.
Als ich wieder am Wenzelsplatz stand, war der Nachmittag schon weit fortgeschritten und es hatte zu nieseln begonnen. Ich ging ziellos und fand dabei Dinge, die ich bislang übersehen hatte. Das Geburtshaus von Egon Erwin Kisch beispielsweise oder das Glockenspiel der astronomischen Uhr, bei dem der Tod das Glöckchen läutet und seine Sanduhr dreht, während über ihm in zwei kleinen Fensteröffnungen zu jeder vollen Stunde die zwölf Apostel vorbei defilieren, jeweils mit einem kurzen Blick hinunter zu ihrem staunenden Publikum, das heute nur aus wenigen Touristen bestand. Was für ein Segen. Schnell sind alle Apostel durch, die Fenster schließen sich, durch die Menge geht ein enttäuschtes „oh“.
„And now we will change money“, hörte ich prompt jemanden mit großer Befriedigung neben mir sagen und erinnerte mich an den jungen Mann, den ich vor Tagen im Vorbeigehen zu seiner Partnerin sagen hörte: „Jetzt haken wir erst mal die Karlsbrücke ab und dann gehen wir was essen.“
Bei meinem neugierigen, etwas gedankenlosen Umherschweifen habe ich heute auch begriffen, wie viele verschiedene Sorten von Absinth es gibt und dass man die dazu angebotenen löchrigen Silberlöffel dazu benutzt, absinthgetränkte Zuckerwürfel zu erhitzen, bis sie karamellisiert sind, um sie dann mit einer Mischung aus kaltem Wasser und Absinth zusammen aufzurühren. Eine Art Ritual, das ein Japaner, den ich beim Einkauf beobachtete, gut zu kennen schien. Er suchte sehr wählerisch eine ganz bestimmte Sorte farblosen Absinths aus und bestellte dazu: „And the sugar please.“ Nach dem zweiten oder spätestens dritten Gläschen kommt, wie ich mir sagen ließ, unweigerlich und sofort der Black Out, verbunden mit einem Filmriss. Darauf steuert der Absinthtrinker in meiner Geschichte aus dem Café Slavia zielstrebig zu.
Um noch mehr Englisch zu hören, suchte ich das amerikanische Literaturcafé „Globe“ in einer der Seitenstraßen hinter der Nationalstraße auf. Dort hängen sehr schöne Autorenfotos an den Wänden, in einer seltsamerweise völlig unbeleuchteten Fotogalerie. Ich sah sie mir trotzdem an und erkannte unter anderem Susan Sontag, Umberto Eco und Gore Vidal, eine Originalaufnahme aus dem Café. Der dazugehörige amerikanische Buchladen ist mit nahezu der gesamten einschlägigen englischsprachigen Weltliteratur bestückt, eine Freude für mich, das zu sehen. Hier blieb ich dementsprechend länger, um zu stöbern, den Regen abzuwarten und einen echten, amerikanischen Cheeseburger zu essen. Bei so viel Englisch um mich herum fühlte ich mich nahezu heimisch. Denn ausnahmsweise konnte ich zum ersten Mal seit Wochen alles lesen!
In Liebe,
Deine