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Tschechien OnlineTschechien Online | Rubrik: Gesellschaft | 15.11.2003
Prags Stricherszene um die Jahrtausendwende / Von Petr Jeremias Popov

Wien/Prag - Die jüngsten Klienten, die László Sümenghs Anlaufstelle für Prager Strichjungen kontaktieren, sind neun Jahre alt, mit 26 gehört man schon zum alten Eisen und wird weggeworfen. Die Regierung leugnet das Problem, das sich nicht auf Tschechien beschränkt, denn die meisten Freier kommen aus Deutschland und Österreich.

Eine Gemeinschaft ist immer nur so stark wie ihr schwächstes Glied, heißt es. Demnach müsste die tschechische Gesellschaft also sehr schwach sein oder nur wenig über ihre Schwächen wissen (oder wissen wollen). Und Letzteres trifft auch zu. Hätte die tschechische Polizei nicht in der jüngsten Zeit zwei besonders krasse Fälle aufgedeckt, welche eines gemeinsam hatten, nämlich die unwiderlegbare und unleugbare Feststellung, dass es auch in der tschechischen (Tabu-)Gesellschaft Kinder-Prostitution gibt, hätte man das Thema weiterhin lässig tot geschwiegen. Der Prager Straßenstrich-Realität folgend, wonach die meisten Freier eben "Westausländer" sind, hätte man nur zu gern auch diese Fälle den "pädophilen Ausländern" (vorzugsweise den "pädophilen Deutschen") in die Schuhe geschoben.

Im ersten aufgedeckten Fall handelt es sich jedoch um einen hoch angesehenen tschechischen Universitätsdozenten der Karlsuniversität, welcher sich wiederholt mit minderjährigen (13-jährigen) Strichern vom Prager Hauptbahnhof vergnügte.

Zwei ausländische Tabu-Brecher

Der zweite Fall wiegt nicht minder schwer: Eine insgesamt 87-köpfige Zuhälter-Gang, die sich auf den Handel mit überwiegend männlichen minderjährigen Prostituierten spezialisiert hat. Die Polizei wirft ihnen unter anderem Verbreitung pornografischer und die Jugend gefährdende Inhalte, Vergewaltigung und Menschenhandel vor.

Ein böses Erwachen für manchen Prager, möchte man meinen. Nicht unbedingt: Schon 1997 schockierte der bekannte polnische Regisseur Wiktor Grodecki mit seinem international preisgekrönten Film "Mandragora" die tschechische Öffentlichkeit. Die naturalistische, authentische Verfilmung der Prager Stricherszene an Originalschauplätzen und die Wiedergabe des dramatischen Einzelschicksales von David Svec löste für einige Zeit Wogen der Empörung bei den Pragern aus. Allerdings verstummte die Debatte nach einiger Zeit wieder im allgemeinen Rauschen des Blätterwaldes. Grodecki wurde als Republikverräter und Nestbeschmutzer beschimpft - "er solle lieber vor der eigenen Haustür kehren" -, mancherorts gelangte sein Film gar nicht erst in die Kinos.

Grundversorgung für "Schmetterlinge"

Einem weiteren "Unruhestifter", dem gebürtigen Ungarn László Sümengh, wurde ebenso von staatlicher Seite nahe gelegt die Republik schnell wieder zu verlassen. Als Leiter einer Anlaufstelle, die sich um die Betreuung mittelloser minderjähriger Stricher kümmert, stößt er mit seinem "Projekt Chance" auf wenig staatliche Gegenliebe. Wie auch Grodecki ist Sümengh Ausländer und hat nicht zuletzt deshalb einen Blick ohne Scheuklappen auf die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Dies ist mit ein Grund, warum beide in Prag geblieben sind und weiterhin am scheinheiligen Weltbild vieler konservativer Politiker nagen.

Seit 1995 betreibt Sümengh als einziger in Prag die niederschwellige Anlaufstelle für minderjährige Prostituierte in der Nähe des Wenzelsplatzes. Sein Projekt wird fast ausschließlich aus den PHARE-Mitteln der Europäischen Union finanziert und wird seitens des Innenministeriums bestenfalls geduldet. Die Polizei kann die Räumlichkeiten jederzeit betreten und die Minderjährigen aufgrund geltender Rechtslage sofort abführen. László Sümenghs Aktivitäten sind sehr vielfältig, einerseits psychosoziale Betreuung und Aufklärungsarbeit direkt vor Ort, anderseits klassische Streetwork-Arbeit in einschlägigen Lokalitäten. In Zusammenarbeit mit befreundeten Ärzten hat er für seine "Schmetterlinge" eine medizinische Grundversorgung aufgebaut. Die meisten seiner Klienten haben weder Papiere noch sind sie krankenversichert. Burgbesichtigungen, Zoobesuche, Filmaufführungen und Maltherapie stehen wöchentlich auf dem Programm. "Alles was das Leben ein wenig lebenswerter macht", sagt László Sümengh. Ganz stolz ist er auf die Besichtigung des Prager Rudolfinums, bei der sich der Direktor der Galerie ihrer höchstpersönlich angenommen hat und sie durch die Ausstellungshallen führte. Im Jahr 1999 gelang es "Projekt Chance", 31 Klienten von der Straße zu holen.

Letzte Weihnachten drängten sich 30 Jungen in den beengten Räumlichkeiten von Lászlós Anlaufstelle, die unter normalen Umständen für höchstens zwölf Personen Platz bietet. Draußen ist es bitterkalt, also rückt man näher, auch wenn es furchtbar stickig ist. Und feiert ein schönes Weihnachtsfest, getrübt nur durch das Wissen, dass wieder fünf von ihnen HIV-positiv sind.

1200 junge Stricher auf Prags Straßen

Im Sommer wiederum verdoppelt sich die Zahl der Stricher auf Prags Straßen auf fast 1200. Zu den Professionellen kommen die Gelegenheits-Stricher dazu, welche die Touristenhauptsaison für sich "nutzen" - der Altersdurchschnitt sinkt dann auf knapp 15 Jahre.

Die Polizei versucht der Lage Herr zu werden, indem sie einschlägige Lokalitäten durch repressive Maßnahmen auflöst, betreibt damit allerdings nur Kosmetik. Sie ist so lange nicht gewillt einen regulierenden Kurs einzuschlagen, bis die politische Doktrin - "Kinderprostitution in Tschechien existiert nicht" - revidiert wird. Sieht man etwas nicht, meinen wohl die Behörden, dann existiert das Problem im Grunde gar nicht.

Je jünger, desto größer der Gewinn

500 Kronen ist der durchschnittliche Verdienst und somit nicht wesentlich höher als beim "gewöhnlichen" Heterostrich. Ist man jünger, so steigt der Gewinn dementsprechend. Die Auswertung von László Sümenghs Gesprächsprotokollen mit seinen Klienten bringen interessante Details ans Tageslicht: So verkehren 26 Prozent der Jugendlichen ausschließlich mit Männern, sechs Prozent mit Frauen und der Rest mit beiden Geschlechtern. Die Polizei und Teile der Prager Stadtverwaltung möchten den Eindruck vermitteln, dass es sich bei den Prostituierten großteils um Jugendliche aus anderen osteuropäischen Ländern und Angehörige der Roma-Volksgruppe handelt, die aus sozial destabilisiertem, aussichtslosem Umfeld stammen. Die Statistik aus dem Jahr 2000 widerlegt diese Behauptung deutlich: 80 Prozent sind tschechische Staatsbürger, 42 Prozent davon Roma.

Die Jugendlichen stammen oft aus zerrütteten Familien, wurden sexuell missbraucht oder kommen mit ihrer sexuellen Orientierung in ihrem Umfeld nicht zurecht. Viele sind aus den berüchtigten Erziehungsheimen getürmt und suchen nun nach neuen Lebenswerten und Wertvorstellungen. Und wie in jeder Gesellschaft gibt es auch hier Menschen, die diese emotionalen Defizite für sich zu nutzen wissen, indem sie die Jugendlichen zu einer derartigen Lebensweise animieren, sich Stricher kaufen oder sie weiterverkaufen.

 

Erstpublikation in der in Wien erscheinenden Zeitschrift "Die Furche" (8.8.2001). Der Text wurde redaktionell geringfügig gekürzt.

Themen: Straßenstrich, Kinderprostitution, Prostitution

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