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Tschechien OnlineTschechien Online | Rubrik: Musik | 2.10.2006
Klavierzertrümmernder Balladensänger, jovialer Entertainer, liebevoller Kettenraucher und Vater: Solo mit zwei Fäusten am Piano und dreiköpfiger Begleitung

Prag - Jenny Elvers ist Lady Di, Bin Laden zum x-ten Male tot, Madonna mit Reitpeitsche und Dornenkrone auf Kreuzfahrt und in Berlin sollen unbedingt die enthaupteten Häupter von drei Religionsstiftern auf der Bühne der Deutschen Oper dem Publikum dargereicht werden.

Die Welt steht Kopf. Und als wäre das nicht genug, schafft der XXVI. Kongress der Internationalen Astronomischen Union (IAU) in Prag auch noch kurzerhand den Planeten Pluto ab.

Vier Wochen danach, am 30. September 2006, lädt der Konzertveranstalter, die Agentur 10:15 Management, zum Sitzkonzert von Nick Cave in die selben schweren Ledersessel des Kongresszentrums.

In denen hätten eigentlich die kommunistischen Funktionäre der KSČ bis in alle Ewigkeit die Übererfüllung ihrer 5-Jahrpläne feiern sollen. Doch die Geschichte schert sich nicht um Gesetzmäßigkeiten. Denn neben gesellschaftlichen Klassen, die um ihren Platz an der Sonne kämpfen, halten offenbar auch wesentlich weniger berechenbare Gravitationskräfte die göttliche Ordnung zusammen - oder stürzen diese ins Chaos.

Und gerade von denen weiß Nick Cave mehr als nur ein Liedchen und manche Ballade zu singen: Gott, Gewalt, Gnade, Evangelium, Erotik, Eifersucht, Liebe, Sex, Drogen. Wichtiges und Essentielles also, das im wirklichen Leben leider oft allzu leicht und operettenhaft daherkommt - oder in manchem Menschenleben wiederum, geschweige, wenn überhaupt.

Licht aus, Spot an: Zorro meets George Michael

Nick Cave ist in Prag und in Tschechien kein Unbekannter. Seit der Samtenen Revolution 1989 hat er hier oft konzertiert (ebenso wie die Blixa Bargeld mit den Einstürzenden Neubauten). Zuletzt war der einstige Gründer der furiosen Birthday Party im Sommer vor einem Jahr Headliner beim Open-Air-Festival "Love Planet" in Trutnov. Entsprechend brandet also der Applaus auf, als im Kongresszentrum endlich das Licht ausgeht.

Wie sehr Nick Cave sich doch immer noch ähnelt: Frappierend, fast als wäre die Zeit stehen geblieben. Klassisch, in Schwarz und Weste gekleidet, könnte man ihn mit den zurückgekämmten langen schwarzen Haaren gut und gerne für einen perfekten Nick-Cave-Doppelgänger halten. Wenn da nicht dieser Zorro-Schnauzbart wäre.

Doch hat Nick Cave nicht gerade dieser Tage einen Filmpreis gewonnen? Womöglich hat er bei seiner Arbeit an dem Drehbuch und der Musik für den Film The Proposition Geschmack an Italo-Western gefunden und probt nun selbst für die Rolle des Bösewichts.

In jedem Fall ist der Bart der beste Beweis dafür, dass es sich auf der Bühne um Nick Cave und niemanden sonst handeln kann. Schließlich hätte sich auch kein Elvis-Imitator in einem albernen Aloha-Hawai-Kostüm auf die Bühne getraut, bevor es der King auf seine alten Tage vorgemacht hätte.

Sitzordnung bricht zusammen, als sich die Masse der Hinterbänkler erhebt

Doch vor allem steht der hier mit Vorschusslorbeeren Bedachte vor ausverkauftem Hause auch nicht alleine auf der Bühne. Begleitet wird er immerhin von Warren Ellis (Geige und Mandoline), Martyn P. Casey (Bass) und Jim Sclavunos (Drums), also im Grunde einer abgespeckten Ausgabe der Bad Seeds.

Und dass die nicht nach Prag gekommen sind, um beim Festival Prager Herbst Kammermusik zu machen, wird schon beim Opener klar, der dem Publikum zur Einstimmung um die Ohren geschlagen wird: "West Country Girl".

Die Lücke, die durch das Ausscheiden von Blixa Bargeld entstanden ist, schafft dabei mehr Raum vor allem für Warren Ellis, der es sichtlich genießt, nun hauptverantwortlich für die brachialen Soundkaskaden zu sein. Die wuchtet er aus seiner Geige unter vollem Körpereinsatz immer wieder hervor - wenn er nicht gerade mal wieder eine der Caveschen Balladen mit Gospelanklängen gefühlvoll zu begleiten hat, die es am Abend auch reichlich zu hören gibt.

Und wiewohl der auf PR-Fotos immer so finster dreinblickende Maestro den Großteil des Konzertes das Piano bearbeitet, zeigt er sich live als freundlicher Entertainer, der immer wieder und gern mit dem Publikum kommuniziert - hier ein Scherz, dort ein Händeschütteln am Bühnenrand: Und welcher Song darfs denn jetzt mal sein? Küss die Hand gnädige Frau...

Und so danken es ihm die Hinterbänkler, indem sie bereits nach dem dritten Song nach vorne zur Bühne stürmen. Da hatte Nick Cave gerade bei "Red Right Hand" zwar schon mächtig auf den Steinway-Flügel eingedroschen, aber noch nicht einmal die erste Zigarette geraucht.

Der dunkle Prediger aus der australischen Wüste revanchierte sich umgehend mit einer Hymne: "The Ship Song" - und verwandelt damit das Sitzkonzert vollends zu einem Stehkonzert. Dem Publikum in den vorderen Reihen dürfte dieser Konzertverlauf eine Gänsehaut der besonderen Art bereitet haben. Immerhin kosteten die besten Sitzplätze umgerechnet etwa 70 Euro - auch für tschechische Verhältnisse nicht wenig Geld.

Zwischen etlichen Zigaretten präsentierte Nick Cave dann ein abwechslungsreiches Programm, das im Grunde einen Querschnitt seines gut zwanzigjährigen Schaffens mit den Bad Seeds darstellte. Neben Material seines letzten Doppelalbums Abattoir Blues/The Lyre Of Orpheus waren auch Klassiker vertreten, wie etwa "Tupelo" von der The First Born is Dead. Übrigens einer der Höhepunkte des Konzertes.

Oh, Mama! - Statt Blockflöten lustloser Gospelchor im Kongresszentrum

Oder "The Mercy Seat", in einer so reduzierten Version freilich, dass das Stück nur dank des Gesanges als solches zu erkennen war, aber dennoch nichts an seiner Intensität eingebüßt hatte.

Überhaupt ist es wohl so, dass die personell etwas ausgedünnten Bad Seeds mehr Interpretationsraum lassen, von dem, wie gesagt, vor allem Warren Ellis als eingespielter Gegenpart von Nick Cave profitiert - und das Publikum, wenn es neugierig ist. So entwickelte sich manche vermeintliche Ballade dann doch zu handfestem Trash und umgekehrt.

Vermisst jedenfalls scheint der gut gelaunte Entertainer von seinen nicht anwesenden Bad Seeds niemanden zu haben. Dafür aber den Gospelchor, der auf dem vor zwei Jahren erschienen Doppelalbum mitgewirkt hat. Anders ist es nicht zu erklären, dass Nick Cave bei seinen doch sehr balladenlastigen Zugaben-Sets gar das Publikum zum Mitsingen aufforderte.

Aber das Prager Kongresszentrum ist nun einmal kein Gotteshaus in New Orleans und so blieb dieser Versuch, den Kongress zum Singen zu bringen, eine kurze, glücklose Episode des eindrucksvollen, gut zweistündigen Konzerts.

Am Ende, nach gut und gerne zehn dem schmachtenden Publikum vorgequalmten Zigaretten und mehrfachen Steinway-Prügelorgien, holte dann den 49-jährigen dreifachen Vater einfach sein sechsjähriger Sohn von der Bühne.

Tja, schön wars. Den Song "Halleluja" hat Nick Cave übrigens gar nicht gespielt. Aber solo war er ja auch nicht. (nk)

Themen: Nick Cave, Konzertkritik

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