Meine Mitbewohnerin, unser Zimmernachbar und ich sitzen im Zimmer und mampfen Tortillas, die gerade rechtzeitig in der Flur-Küche dufteten.
Während der halbstündigen Diskussion über die neuesten Facebook-Nachrichten penne ich schon langsam weg und verpasse somit leider die Neckereien der anderen Beiden, die sich letztendlich allerdings so geräuschvoll mit Plüschtieren beweisen und lachen, dass ich aus meinem Dämmerschlaf aufwache.
Wenig später verlässt unser Nachbar das Zimmer und meine Zimmermitbewohnerin beschließt endgültig schlafen zu gehen. Es ist 17:00. Das Licht wird gelöscht. In Tschechien absolute Normalität, für deutsche Studenten vielleicht manchmal etwas gewöhnungsbedürftig: im Wohnheim gibt es nur Mehrbettzimmer und Deckenbeleuchtung. Ich entschließe auch ein bisschen zu dösen und freue mich schon auf den Ballabend der dritten medizinischen Fakultät und vor allem auf die Ballvorbereitung, da meine Mitbewohnerin noch bevor Sie die Augen schließt meint:“ wenn du mich heute Abend oder heute Nacht weckst .. dann erschieße ich dich!“.
Binnen zwei Wochen habe ich versucht meine Geräuschamplitude, die zu Anfang einem Elefanten glich, auf die tschechische Geräuschamplitude zu reduzieren. Flurgeräusche sind nicht hörbar, die Leute huschen in die gemeinsamen sozialen Einrichtungen und wie aus der Luft heraus stehen dampfende Töpfe auf heißen Herdplatten in der gemeinsamen „Küche“.
Ein Geräuschamplitudenvergleich hinsichtlich der U-Bahnstationen ist noch frappierender. Während in Berlin die Menschen S-Bahn, U-Bahn und alle dazugehörigen Haltestellen mit einer eigenen Version von „Mitten im Leben“ zusammenschreien, steigen die Leute hier geräuschlos und höflich aus der U-Bahn und ordnen sich am rechten Rand der Treppe ein.
Der Amplitudenvergleich der Gaststätten bleibt zum Glück unentschieden.
Aber zurück zum kleinen Dreibettzimmer.. in dem zur Zeit nur 2 Leute wohnen.. und zum Ballabend.
Es ist schon dunkel als ich wieder aus meinen Träumen hochschrecke, neben mir meine schlafende Mitbewohnerin, deren Laptop flackert. Es laufen wahrscheinlich die Simpsons in der Endlosschleife. Wie jede Nacht.
Da ich bei zu lauten Geräuschen erschossen werde, versuche ich möglichst geräuschlos durchs Zimmer zu tappen. Natürlich kam mir nicht in den Sinn, dass ich bis kurz vor Ballbeginn in einen Tiefschlaf fallen würde und mir somit im Dunkeln meine sieben Sachen zusammensuchen müsste. Die Hausschlappen lasse ich schon mal weg und ziehe Socken an.
Meine erste zu meisternde Station ist das Geräuschlose zur Dusche gehen. Da ich ein Talent zum Fallenlassen habe, sind die perfekten Voraussetzungen für eine Bergung des Shampoo und Duschgels vom obersten Regalfach über meinem Bett gegeben. Natürlich hängt das Handtuch über dem Stuhl und über dem Handtuch der Rest der Dinge, für die ich gerade keinen Platz finde. Leider steht der Stuhl allerdings zudem auch noch vorm Schreibtisch, auf dem Sich Plastiktüten, Geschirr und Papiere sammeln. Wie durch ein Wunder, gelingt mir die fast geräuschlose Rettung des Handtuchs und sprinte erneut durch den Flur ins Bad.
Da die zwei einzig warmen Duschen schon besetzt sind, bleibt mir die Auswahl zwischen der Rinnsal- und der kalten Dusche. Ich entscheide mich für den Rinnsal. Die Duschen und auch die restlichen sozialen Einrichtungen sind gemischt und für den gesamten Flur. Laut Erzählungen war das Kolej Svehlova früher eins der beliebtesten Wohnheime, da es damals noch keine Duschkabinen oder Trennwände gab. Gemischt waren die sozialen Einrichtungen schon immer.
Mit nassen Haaren watschle ich zurück zu meinem Zimmer und frage mich wo ich meine Bürste, meinen Fön und meine gesammelten Schminkutensilien verkruschtelt habe. Gleichzeitig frag ich mich wie und wo ich die Restauration meiner selbst am besten vollbringe sollte. Ich entscheide mich alles zusammenzusuchen und wieder zum Bad zu huschen.
Das Auffinden der benötigten Kosmetikutensilien klappt erstaunlich reibungslos und ich sprinte wieder über den Gang.
Geschminkt und wieder im Zimmer, sehe ich ein, dass ich ab diesem Punkt das Risiko eingehen muss von meiner friedlich schlafenden Mitbewohnerin erschossen zu werden. Denn das Anziehen eines Ballkleides, sowie die Anfertigung einer Ballfrisur im Dunklen und zudem noch geräuschlos, überschreitet eindeutig meine Fähigkeiten. Von den Highheels ganz zu schweigen.
Natürlich wacht meine Mitbewohnerin von der angeschalteten Deckenbeleuchtung auf. Eine kleine Tisch- oder Bettlampe gibt es nicht. Wieso auch. Glücklicherweise werde ich nicht erschossen und werde sogar noch bei der Auswahl der Ohrringe sowie der Frisur beraten. Sie warnt mich aber, Sie vor vier Uhr nochmal zu wecken, da Sie zu dieser Uhrzeit aufstehen muss. Um Ihr Studium zu finanzieren räumt Sie nämlich ab 6 Uhr morgens für 3 Euro die Stunde Regale im Supermarkt ein. Wie Sie mit den 6000 Kronen in Prag überlebt ist mir ein Rätsel.
Es ist halb neun, als ich endlich zum Ball starte. Aus Kostengründen fahre ich eine Station mit der U-Bahn. Die Rolltreppen der Prager U-Bahn sind noch aus der sowjetischen Zeit und rattern mit 9 km/h pro Stunde (was übrigens oberhalb der EU-Norm liegt) vom Eingangsniveau direkt bis zum Bahnsteig. Der Luftzug der Prag U-Bahn entspricht der Hamburger „steifen Brise“ und somit werden Frisur sowie Kleid in alle möglichen Richtungen verwirbelt, und ich bereue kein Taxi genommen zu haben.
Eine viertel Stunde später, und mit in der U-Bahnhaltestelle neu frisierten Haaren, stehe ich vor dem Narodni dum na Vinohrady. Es ist ein wunderschöner Bau aus dem Jahre 1894, in dem Konzerte, Bälle sowie Kongresse veranstaltet werden. Man schreitet, neben Ballkleidern und Smokings die großen Treppen nach oben in den großen Ballsaal und ich frage mich, wie fast jeden Tag in Prag, wieso ich seit 12 Jahren die erste Charité Studentin bin, die sich zum Erasmussemester nach Prag aufmacht. Der Saal ist mit großen Kronleuchtern erhellt und die goldgelben Wände sind mit Malereien und Ornamenten verziert. Es gibt eine große Tanzfläche in der Mitte, Stühle am Rand und im hinteren Teil, rote Samtvorhänge und überall wunderschönen Leuchten. Verträumten Mädchen kann ich einen solchen Prager Medizinerball sehr empfehlen, allen Anderen ebenfalls.
Wenig später werde ich von einem jungen Herren gefragt ob er um einen Tanz bitten darf. Das Betragen der Tschechen bei solchen Anlässen ist äußert vornehm und ich werde noch ein paar Mal an diesem Abend mit dem vornehmen Umgang mir gegenüber schlichtweg überfordert sein.
Um halb drei werde ich mit dem Taxi heimgefahren, mein Ballkleid lege ich auf das ungebrauchte Bett und freue mich diesmal, dass ich schon alle Dinge rausgelegt habe. Erschöpft und mit einem Kopf voller neuer schöner Erinnerungen und Erlebnisse schlafe ich ein. Zum Glück ist meine Mitbewohnerin Tschechin und ich wache natürlich nicht auf, als Sie eine Stunde später aufsteht und sich geräuschlos im Dunkeln fertig macht.