Es heißt, dass die guten Geschichten auf der Straße liegen, und dass man sie nur aufheben müsste. Dass hört sich romantisch an und liest sich verklärend. Häufig fehlt doch der Blick für das Detail, häufig auch die Zeit, Situationen und Momente so annehmen zu können, wie sie sind. Außerdem braucht es dazu nicht nur die eigene Bereitschaft, sondern auch die eines Gegenübers. Den Zufall, nicht zu vergessen. In so einer Metropole wie Prag stolpert man eben nicht ständig über interessante Begegnungen, sondern latscht einfach weiter, weil man schließlich nicht an jeder Ecke einen Stopp einlegen kann.
Das wunderbare aber ist, nicht danach zu suchen, sondern wenn so ein Moment dann plötzlich kommt, einfach die Tür aufzumachen und ihn hereinzulassen. Und wenn man dann auch noch auf einem Boot landet, wo der Platz begrenzter ist, so liegen die Geschichten (manchmal) dann im Oberdeck oder an der engen Bar im Unterdeck.
Nach meiner Lesung auf der (A)Void Floating Gallery, einem Kulturschiff, ging es mir so. Erst erzählte ich zwischen einem Ofen und Rettungsringen von meinen Geschichten, las aus ihnen vor und teilte einige Eindrücke aus meiner bisherigen Zeit in Prag, und dann fand ich selbst Geschichten von anderen Menschen. Ich musste einfach, nur kurz abwarten und bleiben, wo ich war. Und dann ließen sich einige Menschen, quasi, gegenseitig zu dieser Art von Tür herein.
Kurz nachdem das Prager Literaturhaus meine Lesung veranstaltet, moderiert und sogar gedolmetscht hatte, tauschten sich, im Handumdrehen, die Gäste auf dem Schiff aus. Die Literaturfreund*innen gingen und die, die es an einem milden Montagabend, aus welchen Gründen auch immer, nach draußen verschlug, kamen.
Einer von ihnen war Jakub. Ich weiß gar nicht mehr ganz genau wie es kam, aber auf einmal stand er am Tresen neben mir und eine Sekunde später, trotzten wir gemeinsam dem Wind auf dem Deck und versuchten zu rauchen. Während der Talk-Runde im Anschluss der Lesung sagte ich noch, dass ich es ganz wundervoll finde, dass man hier so viele nette Gespräche beim Rauchen führen kann und das ich aus Spaß meinte, endlich mit dem Paffen anfangen zu müssen. Aber nun zu Jakub: Wir fanden schnell ein Thema und teilten die Begeisterung für Musik. Dabei ging es darum, wie es ist in einer Band zu sein, Kunst zu machen und was es mit sich bringt, was es einem abverlangt. Jakub ist bodenständig, Anfang dreißig und macht seit vielen Jahren Musik. Ihm geht es um das Gemeinsame und nicht um irgendetwas anderes. Nun hat er eine neue Kombo gegründet und ist ganz aufgeregt, wie er mir erzählt, weil sie bald ins Studio gehen werden. Der Sound, so beschreibt er sehr ausführlich und liebevoll, sei eine Mischung aus Hardcore und Metal. Sie hätten von beiden Musikrichtungen nur das Interessante herausgepickt. Er lachte sympathisch und stieß mit mir an. „Ciao.“. Als ich dachte, die Konversation sei schon wieder vorbei, erklärte er mir, dass man das in Prag auch als „Prost“ sagt. Wieder ein kleines Detail gelernt. Wir kamen dann genau darauf zu sprechen, auf die kleinen schönen Dinge, Situationen, Momente im Leben, die man schnell übersieht. Er berichtete mir von einer Plattenbausiedlung, am südlichen Ende der roten U-Bahnlinie. Er ginge da gern zu bestimmten Jahreszeiten hin, am liebsten, wenn morgens, zum Sonnenaufgang, der Nebel zwischen den Hochhäusern stünde und die Sonne dann tollste Bilder in den Moment male. Er mag Fotographie und die kleinen liebevollen Augenblicke des Lebens, für die man gar nicht weit schauen müsste, und die er dann gern mit seiner Kamera festhält. Ein wenig kitschig ist das schon, aber ich mag das auch. Seine Umsicht, seine liebevolle Art, wie er von solchen Momenten sprach, und dass er dies gern teile, begeisterte mich. Dabei schaukelte ein wenig die Floating Gallery, der Drink in meiner Hand und das Metall des Schiffsrumpfes gab Laute von sich. Oder war es der Barkeeper, der gut einen sitzen hatte? Momente, verschwimmen auch gern. Im wahrsten Sinne des Wortes. Dann streckte sich Jakub zu den Barleuten, um die nächste Runde von selbstgemixten Freigetränken anzunehmen und dabei knarzte seine schwere schwarze Lederjacke. „Ciao“, stimmte ich mit ein und im Hintergrund spielte jemand am Klavier auf. Wir verplauderten einen wundervollen Abend auf dem Schiff, auf dem, scheinbar, die Geschichten liegen. (Wieder schlich sich der Kitsch in meinen Text. Aber ich lasse es zu und stehen, weil es sich in diesen vielen Momenten so anfühlte.)
Für nächste Woche wurde ich dann auch noch zu einer weiteren Veranstaltung eingeladen. Ich könne ein paar Texte lesen, wenn ich wolle, so der „Manager“, der Gallery, der selbst Texte schreibt. Einer der Barkeeper erzählte, dann noch wirre Geschichten aus seiner Zeit als „Bartender“ auf einem Kreuzfahrtschiff. Jakub, ich und die anderen lauschten aufmerksam. Lauter (und leiser) Stoff, um davon erzählen zu können. Manchmal lauern die spannenden, abstrusen, die traurigen und die witzigen Geschichten in jeder Ecke. Manchmal bleiben sie auch verborgen. Es sich lohnt einfach zu zuhören und hinzuschauen, ob auf der Straße, an Würschtelstand im Stadion, in der Supermarktschlange, im kruden Waschsalon, schnöden Café oder eben auf der (A)Void Floating Gallery. So ist das eben, wenn es dann passiert, kommt man nicht umhin, es selbst zu romantisieren. Aber es hinterlässt eben auch ein umarmendes Gefühl.
Jakub musste dann bald los. Es war schließlich spät und schon in zwei Tagen geht es mit seiner Freundin und der vierjährigen Tochter zum Ausflug. „Wo genau hin?“, fragte ich. „Einfach paar Kilometer raus aus Prag und in die Natur. Details sammeln und Zeit haben.“, grinste er. Danke Jakub und den anderen, auf und unter Deck.