Vor mir schiebt sich eine grüne Bustür zur Seite. Ich kann jedoch noch nicht durch den Eingang, den Ausblick, der sich vor mir auftut, hindurchgehen. Es bleibt wenig Zeit. Wie lange ist so ein Augenblick? Um einem Winken und den letzten aufreibenden Tagen zu folgen, schaue ich erst nochmal zurück. Wohltuend nehme ich die herzliche Verabschiedung und den Zuspruch mit und schiebe mich dann erst in den Reisebus hinein. Ein Blick auf mein Ticket verrät: Sitz 20C. Ich muss zugeben, dass ich zu der Sorte Menschen gehöre, die noch ganz Oldschool, ihre Fahrkarten, Eintrittskarten, meist auch Kinokarten ausdrucken. Das wirkt ein bisschen antiquiert, aber wenn das Handy wegkommen sollte, stehe ich da und der nächste Internet-Shop, dessen Existenz auch antiquiert ist, winkt ebenfalls nicht gerade mehr von jeder Ecke. So ein Winken, tut manchmal einfach sehr gut. Mehr Zeit haben auch.
Das Haptische der Fahrkarte, an der ich mich festzuhalten scheine, macht die Situation nun realer. Auf so was ist man nicht vorbereitet, dass kann man sich gar nicht vorstellen. Das Gefühl stellt sich erst ein, wenn es so weit ist. Das Jetzt.
Ich bin ein wenig durch den Wind, ein wenig verloren und überfordert mit dem, was auf mich zu kommen wird. Und nun auch noch folgende Situation: In so einem Reisebus gibt es meist nur drei Sitzplätze, auf denen man nicht nur eine*n Sitznachbarn*in hat, sondern gleich zwei. Eine Person rechts und eine links von sich. Nämlich genau in der letzten Reihe. Und die, ist nicht etwa die Reihe 21, sondern ganz sonderbar, nämlich in der Reihe 20. Also die letzte Reihe in diesem Flixbus N1315. Eigentlich bräuchte ich jetzt Ruhe und nicht so „komplizierte“ Angelegenheiten, für mein ohnehin schon angespanntes Hirn.
Aber ich quetsche mich zwischen zwei Männer in die letzte Reihe. Einer der Nachbarn wird, wie ich später erfahren werde, in ein paar Tagen 40 Jahre alt und wird dazu alle um ihn herum einladen. Ein anderer, wie ich später mitbekommen werde, auf dessen Fahrkarte keine Platznummer steht, ist ungefähr die Hälfte des zukünftigen Geburtstagskindes. Vom Alter und von der Erscheinung her. Er ist sehr schmächtig, redet gar nichts und hockt neben mir. Dazu kommen noch zwei weitere Fahrgäste, die sich schon schön eingerichtet haben und wohl schon länger im Gefährt hocken. Ich schnaufe durch und greife nochmals nach der Verabschiedung und den letzten Tagen. Es war viel los und ich kam noch nicht zu der Gelegenheit mir ausschweifende Gedanken, oder Vorstellungen zu machen, was die nächste Zeit bringen wird. Daher schweife ich aus und die Gedanken drehen sich in Spiralen.
So ein längerer Aufenthalt, generell Aufenthalte fangen doch nicht erst mit dem Ankommen an, grübele ich. Natürlich gibt es auch immer den Startschuss für den Weg dahin und die Vorbereitungen. Ich habe mir das lange gewünscht und vorgestellt und jetzt ist es auf einmal greifbar nahe. Es ist da. Es ist kein Moment, kein Augenblick, sondern ein Sog, in den ich komme, der dann kurz innehalten oder vielleicht auch länger dauern wird. Ganz langsam, Stück für Stück wird es realer. Und zwar nicht aus mir heraus, auch nicht durch die weiten grünen Landschaften, die an mir vorbeiziehen. Auch nicht durch den Grenzübergang und den Zwischenstopp, wenn aus Pilsen, Plzen wird. Sondern durch die Gespräche, denen ich demütig und bedächtig lausche. Fünf Menschen hocken nebeneinander und teilen - manche mehr, manche weniger, oder gar nicht (aber sie sind trotzdem da) - einen kurzen Teil ihrer Geschichte mit den anderen.
Ein blonder Student aus Waiblingen kauert zwei Sitze weiter von mir, zwischen den zwei älteren Männern aus Ost- Tschechien. Der junge Mann will nach Prag, wie ich. Dort wird er „Freunde treffen und die Stadt anschauen“, wie er sagt. Die zwei Männer lachen und sagen fast zeitgleich „Natürlich. Und Party machen und viel Bier trinken“. „Pivo-Paradies“, antwortet er zwar knapp, aber freundlich. Später wird er längere Sätze formulieren. Alle lachen entspannt und richten sich ein. Die ersten Klischees werden freundlich verteilt und dankend angenommen. Die ironischen Antworten kommen an und die drei werden sich vertrauter. Die Zeit lässt sich schneller verplaudern, dann kommt einem die Fahrtzeit weniger lang vor. Der Stein ist auch bei mir ins Rollen gekommen. Meine Ohren klinken sich manchmal ein, manchmal wieder aus. Das tut gut. Sie erzählen sich ihre Geschichten. Ich vernehme davon ein paar Sprachfetzen. Von der harten Arbeit. Vom Hin- und Herpendeln. Ich höre liebevolle Berichten von Familienurlauben. Von Erfahrungen in Prag und Tschechien. Über die Anstrengungen im Wirtschaftsstudium und auch ein wenig Politik kommt zum Anklang. Alle drei gehen sehr freundlich miteinander um. Mein Nachbar bleibt stumm, die ganze Fahrt über. Wie ich. Aber ich erhasche einen kurzen Blick auf sein Handy, auf dem er „A Hard Days Night“ von The Beatles hört und dazu mit dem Kopf wippt. Ich wippe mit, obwohl ich nichts höre, aber ich kenne die Melodie und mag das beschwingte Gefühl der Vorstellungskraft, die sich langsam einstellt. „You know, I feel alright.”
Das Busticket knistert in meiner Hosentasche, mein Blick wird klarer. Und auf einmal zischen auch schon die ersten Vororte von Prag an der grünen Schiebetür, der Reihe 20, den fünf Köpfen und vielem mehr vorbei.
Prag, meine Station für die nächsten Wochen. Praha, ich werde dir lauschen, wie den Passagieren. Ich möchte deine Geschichten hören und verstehen. (Ich muss auch nicht alles verstehen.) Aber versuchen ist schön. Und ich fange gleich damit an. Egal um was es geht, ich möchte gleich wissen, was heute, an dem Tag meiner Ankunft, diesem ersten des Monats passiert ist. Okay, der Prager Fußballclub Bohemians 1905 hat sein Auswärtsspiel verloren. Die Prager Straße Konevova wurde umbenannt und heißt ab heute Hartigova. Der neue Generaldirektor des öffentlich-rechtlichen Fernsehens (CT) heißt ab heute Jan Soucek. Das könnte der Anfang sein und der N1315 fährt in den Busbahnhof Florenc ein und erreicht den nächsten Zwischenstopp: Praha.
Die letzte Reihe lichtet sich. Zwei steigen aus. Der Student und ich. Bevor wir den Ausstieg passieren, drehen wir uns automatisch nochmal um. Ein Handzeichen vom „Blonden“ und ein Nicken von mir. Ich bedanke mich leise, für´ s Begleiten hinüber ins Ankommen, dass noch dauern und sich irgendwann einstellen wird. Zum großen Glück habe ich dafür mehr als genügend Zeit.