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Der Autor

Peter Becher, geboren 1952, Studium der Germanistik und Geschichte, Promotion mit einer Arbeit über das Ende der Donaumonarchie, 1986 bis 2018 Geschäftsführer des Adalbert Stifter Vereins, seit 2019 Vorsitzender des Vereins, Autor von literaturgeschichtlichen Arbeiten, Erzählungen und Feuilletons, Mitglied des Tschechischen PEN.

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© Archiv P. B.

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Prager Stadtfeuilletons 2019

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Ankommen in Prag

Prager Stadtfeuilletons 2019

Dienstag, 2. April. Alle Anschlüsse funktionieren reibungslos an diesem Tag, die Busfahrt von München nach Prag ohne Verzögerung, ohne Stau. Schon taucht der erst Mattoni-Adler neben der Autobahn auf, fahren wir in die Stadt hinein, wird das tanzende Haus, das Mánes-Gebäude sichtbar, fahren wir an der Cyrill-Method-Kirche mit den Einschüssen vorbei, am Literaturhaus in der Ječná, zehn Minuten vor der angekündigten Zeit erreicht der Bus den Hauptbahnhof.

Doch bin ich wirklich schon angekommen in Prag, in dieser Stadt mit ihren hundert Geschichten und Vergangenheiten? In der Kuppel der alten historischen Eingangshalle mit dem Fanta-Café  sammeln sich die Stimmen der Jahrzehnte und rieseln zerstäubt herunter, der Kaiser besucht Prag, ein Zug mit Soldaten dampft in den ersten Weltkrieg, ein Lazarettzug bringt Verwundete von den Fronten des zweiten, KZ-Häftlinge blicken halbverhungert aus Güterwaggons, Vertriebene laden verschreckt ihre Koffer und Rucksäcke  ein, kommunistische Geheimdienstleute verhaften die Anhänger der Ersten Republik. Über das Geländer gebeugt, sehe ich unter mir die Tagespendler aus den Zügen eilen, die Wochenendtramps mit Rucksäcken und Gitarren in die Jagdgründe des Böhmerwalds ziehen. 

Ein erster Kaffee in Prag, in der Fantova kavárna, wie da die Blicke hochwandern an jeder Figur, jedem Wappen hängen bleiben, „Praga mater urbium“ steht in goldenen Buchstaben über dem zentralen Durchgang, angehimmelt von einer barbusigen Marmorfrau auf der einen Seite, auf der anderen Seite von einer zweiten, deren Rücken so muskulös, dass es auch ein Mann sein könnte, oder sind es gar keine Muskeln, nur Falten, die fröhlich walten? „28. říjen r.: 1918“ steht neben der Mutter aller Städte, 28. Oktober, damals, als die Republik ausgerufen wurde, in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs, als der Waffenstillstand nur noch wenige Tage, der Friedensschluss noch Monate auf sich warten lassen sollte. Doch Masaryk und Beneš hatten längst Nägel mit Köpfen gemacht, in Pittsburgh und Washington, hatten tschechische Legionäre durch den russischen Bürgerkrieg marschieren lassen, Jaroslav Hašek unter ihnen, der gar nicht wusste, wie er seine russische Frau hinter dem Ural und seine tschechische Frau zuhause mit einem einzigen Ehering beglücken sollte. Wenn sie nur nicht zur selben Zeit, zur Zeit, ja die Zeit …  

Ich sitze und grüble im Café Fanta, der Cappuccino ist längst lau geworden, und bin immer noch nicht angekommen, immer noch unterwegs in den Labyrinthen der Vergangenheit, in den vergangenen 34 Jahren, seit ich zum ersten Mal in Prag war, zum ersten Mal die gelbe Kuppel und die Mutter aller Städte fotografiert habe, mit einem Schwarzweiß-Film, dessen selbstentwickelte Bilder genauso grau sind, wie die damaligen Straßen und Plätze grau waren, keine Cafés, keine ausländischen Zeitungen, keine Reklameplakate, keine westlichen Autos, keine Boutiquen, keine restaurierten Hausfassaden, keine MacDonalds-Läden, keine Hamburger, dafür aber chlebíčky, echte, gute chlebíčky, die nach Eiern und Schinken und Mitteleuropa schmeckten, und bramborák, allein schon der Name, wie dürr klingt Kartoffelpuffer dagegen, bramborák voll Knoblauch und Fett, gegen das selbst das stärkste Butter-Brotpapier keine Chance hatte. Ich muss mir ein Buch über den Hauptbahnhof, das Café Fanta und die wunderbare Kuppel besorgen, unter der sich so viele Figuren und Zeiten begegnen, reale und fiktive, vergangene und gegenwärtige.

Die Gästewohnung des Literaturhauses im Haus „Hlahol“ am Masarykovo nábřeží, befindet sich im vierten Stock, zu dem eine Steintreppe hinaufführt, drei Schlösser öffnen die Tür, drei hohe, fast quadratische Zimmer, die meisten Wände kahl, das Mobiliar zusammengewürfelt. Wer mag hier früher einmal gewohnt haben? War es eine tschechische, eine deutsche, eine jüdische Familie? Wurde die Wohnung womöglich arisiert, tschechisiert, enteignet und nach 1989 restituiert? Wer mag das wissen, wer Auskunft geben? Kurz vor Mitternacht stehe ich am Fenster und schaue auf die grüne Leuchtschrift des Mánesturms, auf das dunkelschimmernde Gleiten der Moldau, die Straßenlampen am anderen Ufer, und die funkelnde Sternenbotschaft des Laurenzibergs, aus dem sich der blaue Zeigefinger des kleinen Eiffelturms abhebt. So stehen und schauen und sich von dem Rauschen der Moldau einhüllen lassen, die unter der Jirásek-Brücke ein kleines Gefälle hat, eine Stufe der Zeit, über die Wellen und Gedanken mehr stolpern als stürzen, nicht weit, aber doch tief genug, um einen kleinen Wirbel zu erzeugen, der sich dreht und dreht und in der Müdigkeit der mitternächtlichen Stunde verliert. Jetzt bin ich tatsächlich, vielleicht, noch nicht ganz, aber doch irgendwie angekommen.

Bildnachweis:
Peter Becher

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