Treffen in Karolinenthal mit Th. und M., mit denen ich vor zehn Jahren zusammen studiert habe und die jetzt in der Nähe von Budweis als freie Übersetzer leben. Ursprünglich wollen wir ins Kino in Lieben gehen, es läuft irgendeine alte Verfilmung von »Der Krieg mit den Molchen« aber wir verzetteln uns in dem Café, in der Nähe des Invalidenheims und verpassen die Metro, dann muss noch jeder auf Klo und weil das Café nur ein Klo hat, dauert das und dann beschließen wir kurzerhand einen Spaziergang durch die Stadt zu machen. Th. und M. sind eher zufällig in der Stadt. M.s Mutter hatte eine komplizierte OP und sie wollten sie im Bulovka-Krankenhaus besuchen und dann hatten sie ein übriggebliebenes Plakat von der »Svět knihy« in der Tram gesehen und mich daraufhin über Facebook angeschrieben, ob das ich sei, der da gelesen hätte.
Eigentlich wollten wir uns nach der Planänderung zusammen Lieben anschauen, wir laufen auch zur Hrabal-Wand, lesen die Sprüche und Kapitelauszüge an den Wänden, aber wir sind zu sehr damit beschäftigt, die zehn letzten Jahre Revue passieren zu lassen und uns »upzudaten« wie Th. sich ausdrückt, um vom Rest und vom Stadtteil was mitzubekommen. M., die hier aufgewachsen ist, führt uns durch die Straßen, bis ich jegliche Orientierung verloren habe, irgendwann landen wir an der Rokytka und laufen runter zur Moldau. Viel Müll liegt hier herum, vor allem Getränkedosen und PET-Flaschen, zerfetzte Plastebeutel, ein Schwamm, an einer Stelle liegt ein alter Kühlschrank im Uferschlamm.
Wir setzen uns auf den umgekippten Kühlschrank, ziehen uns die Schuhe aus und lassen die Beine ins Wasser baumeln. Ich erzähle von meinem Weg, der mich von der Theologie weggeführt hat und wie ich mich langsam an die Idee, Schriftsteller werden zu wollen, herangetastet habe, von dem Zweifel, ob ich das überhaupt dürfe, davon, dass ich andauernd das Gefühl hatte, es bräuchte mehr als diesen Wunsch, eben ein Zeichen von außen, ein Urteil von berufener Seite, dass ich, Jonathan Böhm, dafür geeignet und begabt und berufen sei, Schriftsteller sein zu dürfen, Th. und M. nicken.
Ich erzähle, wie das alles hier in Prag angefangen hatte, weil ich hier - anders als in Leipzig - nur Theologie studiert und deshalb umso deutlicher gemerkt habe, dass ich das nicht will, wie ich nach Leipzig zurückgegangen bin und dort, aus Angst mein Stipendium zurückzahlen zu müssen, doch mein altes Studium erstmal zu Ende studiert und mich dann am Literaturinstitut beworben hatte und im zweiten Anlauf dann genommen wurde und dann tatsächlich dort war, am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, einem Ort, den ich jahrelang ehrfürchtig umschlichen, mich nie hineingetraut und auch in den ersten Wochen und Monaten am Institut das Gefühl gehabt hatte, das jeden Moment jemand zu mir kommen könnte, um mir mitzuteilen, dass ich hier falsch sei, dass es ein Irrtum war, mich hier aufzunehmen und dass meine literarische Begabung bei weitem nicht ausreiche, um hier zu studieren, und wie ich an mir herabgesehen und ständig diese Minderwertigkeitskomplexe gehabt hatte, denn ich sah auch gar nicht aus wie ein Künstler, ich hatte ganz normale Schuhe, ganz normale Hosen, in unauffälligen Farben und trug eine dünne Brille aus grauem Draht. Darüberhinaus hatte ich eine Tochter und führte ein sehr erwachsenes Leben, ich ging nicht auf Parties wie meine Kommilitonen, ich nahm keine Drogen, weil ich davor auch viel zu viel Angst gehabt hätte und ich schrieb Geschichten, die von vorne bis hinten normal durcherzählt waren, ohne Brüche, nichts, wo ich etwas »mit Sprache gemacht« hätte, nichts, wo ich das »Erzählen erzählt« hätte oder sonst etwas Kluges, was in den Seminargesprächen ständig anklang und wie ich das Studium am Ende doch absolviert hatte und mir nun verwundert die Augen rieb: Ich hatte ein Buch, wenn auch nur ein kleines, veröffentlicht, hatte ein erstes Stipendium ergattert und nun ein zweites und so war ich hier in Prag gelandet und wohnte nun schon fast zwei Monate hier, ja meine Zeit hier näherte sich sogar schon wieder dem Ende, und jetzt säße ich hier, mit ihnen und das Wasser der Rokytka ströme mir kühl um die Füße, und das sei wunderbar, hier den Blättern und Shampooflaschen im Wasser zuzuschauen und ein bisschen mache es mir auch Angst, denn ich hatte ja ganz am Anfang schon einmal einen Freund aus der Zeit vor zehn Jahren getroffen, O. und aus Büchern weiß ich, dass so etwas oft dann passiert, wenn ein Protagonist demnächst sterben muss, eine schlimme Krankheit bekommt etc. aber das sei ja andauernd meine Angst, weil ich andauernd befürchte zu diesem Leben, zu diesem Beruf kein Recht zu haben und dafür bestraft zu werden und jedenfalls: jetzt seien sie an der Reihe.
Ich habe Durst und schlage vor, dass wir noch etwas trinken gehen. Wir ziehen uns also die Schuhe an und laufen los und einen Hang hoch, nehmen eine Straßenbahn - endlich habe ich wieder Orientierung - und fahren nach Žižkov.
In der Biskupcová laufen wir zum Kino Aero und setzen uns in den Hof. Filme laufen heute keine mehr, aber es gibt noch Bier und so haben wir es immerhin noch in die Nähe eines Kinos geschafft, denke ich. M. erzählt, wie sie nach dem Abbruch des Theologiestudiums in Prag hier an der Kinokasse gejobbt hat und dann nach Berlin, später Dublin gegangen ist, um noch mal von der Pike auf Linguistik und Übersetzen zu studieren. Th. ist in Prag geblieben, er hat seinen Magister in Theologie gemacht und arbeitet heute als freier Lektor für verschiedene Verlage in Deutschland und Tschechien, die altsprachliche Texte editieren, er ist so etwas wie ein Spezialist für byzantinisches Griechisch.
Existieren könnten sie, ähnlich wie Freiberufler in Deutschland, ganz passabel, aber große Sprünge, Stichpunkt: Altersvorsorge seien nicht drin, sagt Th. und zuckt mit den Schultern. Die Absicherung sei vor allem das Haus, in der Nähe von Budweis, das Th.s Großvater gehört habe und in das sie nach dessen Tod gezogen seien, weil sie dort, wie Th. sagt, nur die Fixkosten bezahlen müssten, einen großen Garten hätten, so können sie etwas zurücklegen. Es geht dann noch eine ganze Weile so weiter über die schwierigen Honorarbedingungen, die Mauscheleien der Verleger, die nicht nach Normseiten sondern Zeichen abrechnen wollen etc., persönlicher wird es erst, als ich von den Kindern erzähle und dass es für Karo und mich wichtig ist, die Arbeit im Haushalt und die Sorgearbeit für die Kinder genau aufzuteilen, was aber auch Auswirkungen auf unsere beruflichen Karrieren hat. Th. wirkt irgendwie unruhig, sagt, er müsse auf Klo und verschwindet. Kaum ist er weg, erzählt mir M. aus heiterem Himmel, dass sie in Dublin eine Affäre gehabt habe, dass das Kind aber nicht von Th. gewesen sei und sie deshalb abgetrieben habe, sie aber seitdem nicht mehr schwanger werden könne. Ich weiß nicht, warum sie mir das erzählt, so nah waren wir uns auch früher nicht, kann aber nicht mehr fragen, ob Th. davon weiß, denn er kommt schon zurück und sagt, dass die Bar gerade schließt und wir gehen müssten und M. hört sofort auf, darüber zu reden. Karo fragt per SMS, wann ich heimkomme, Joram schläft ewig nicht und sie muss noch einen Beitrag fertig schreiben. Wir einigen uns darauf, dass ich in einer guten Stunde wieder zu Hause bin.
Auf dem restlichen Weg kommen wir nicht mehr auf das Thema. Es geht dann viel um die Orientierungskurse, die ich an der Volkshochschule gebe, die Flüchtlinge und wie das denn jetzt eigentlich sei, im Zusammenleben mit den vielen Ausländern. Ich erkläre, spüre Ressentiments, vor allem bei Th., er fragt mich allen Ernstes, ob man die Flüchtlinge überhaupt unterrichten könne und ich bin baff, er ist doch ein gebildeter Mann, ich versuche zu differenzieren, spreche von der Gaußschen Normalverteilungskurve was die Leistung der einzelnen SchülerInnen angeht usw., weiß aber nicht, was davon ankommt, denn Th. meint, er wisse einfach nicht was da bei uns in Deutschland los sei, kommt aber einen Satz später schon auf irgendeine Gruppe von Afghanen zu sprechen, die in Bayrisch Eisenstein eine Gymnasiastin im Bus angegrapscht haben sollen und dafür von einer Horde Jugendlicher verdroschen worden seien, zu Recht, wer sich nicht zu benehmen wisse, müsse halt Konsequenzen spüren. M. schweigt dazu, sie läuft mit verschränkten Armen neben uns. Wir kommen an einem Basketballplatz vorbei, daneben ein kleiner Park und da ich schon seit einer Weile muss, trete ich kurz aus.
Als ich wieder zurückkomme, sehe ich die beiden wie sie unter einem Baum stehen und still in Richtung Basketballplatz schauen. »Schau mal«, flüstert mir M. belustigt ins Ohr und zieht mich am Revers in ihre Richtung. Ich kann erst nichts sehen, aber nachdem mir M. und Th. meinen Kopf mit Händen in die richtige Richtung drehen, sehe ich es auch: zwei Männer, die im Schatten des Basketballschildes - oder wie das heißt - in einer Ecke stehen und es offenbar miteinander treiben, die Hosen in den Kniekehlen, ich sehe jedenfalls nur den Hintern des einen, der rhythmisch zuckt, aber kein Geräusch ist zu hören, nur ein leises metallisches Klimpern wie von Münzen oder vielleicht Schlüsseln. Es ist gewiss das eindrücklichste aller Bilder, das ich hier in meiner Prager Zeit gesehen habe, das weiß ich sicher und da ich in vier Tagen fahren werde, denke ich, werde ich etwas so bizarres auch nicht noch einmal sehen.
Wir laufen weiter, kaufen ein letztes Bier in einem dieser vietnamesischen Večerkas. Karo schreibt, dass Joram jetzt schläft und ich mir ruhig Zeit lassen könne, wenn ich wolle. Zu den beiden Männern fällt lange kein Wort, bis Th. meint, dass es ganz schön armselig sei und als ich frage was er meine, antwortet er nur indirekt, die beiden Männer, widerlich, jaja, dass man das jetzt wahrscheinlich nicht mehr sagen dürfe und ich sicher denke, er sei homophob und ich sage, dass ich das nicht denke, aber ich habe den diffusen Wunsch die beiden Männer zu verteidigen und sage, dass ich es sogar ein bisschen schön fand. M. verschränkt wieder ihre Arme und klemmt ihre Bierflasche vor der Brust ein und Th. meint nur, armselig sei, diese Form der Triebbefriedigung in aller Öffentlichkeit, die aber seiner Meinung nach in der Natur von Homosexualität begründet sei, dass eben nicht die Weitergabe von Leben im Vordergrund stünde, nicht die Verantwortung für werdendes Leben, sondern nur die Lust und dann komme eben so was heraus, es sei deviant und es sei schlimm, dass das tschechische Parlament jetzt ein Gesetz verabschiedet habe, dass es verbiete, genau das beim Namen zu nennen, dass Schwule (mir fällt auf, dass er tatsächlich nur von Schwulen spricht) im Grunde genommen pervers seien, dass es aber klar im Interesse derjenigen sei, die die normale Familie zerstören wollten, sein Bruder, der sei mutig gewesen, als sich neulich auf einem Stadtfest bei ihnen zwei Männer geküsst hätten und Th.s Nichte dann gefragt habe, was die da machen, habe sein Bruder zu ihr laut und deutlich gesagt, dass es einfach zwei deviante Irre seien, die sich in der Öffentlichkeit nicht zu benehmen wüssten und Th. findet das gut, sein Bruder lasse sich einfach seine Familie nicht von dieser Genderideologie kaputt machen… so geht es immer weiter. Ich will einhaken, aber komme nicht dazu, weil er ununterbrochen redet, er fängt an, Schleifen zu drehen, kommt auf die Finanzoligarchen, die den Zweiten Weltkrieg geplant und auf die jüdischen Bankiers, die Hitlers Wahlkampf finanziert hätten und dass Andrej Babiš (die Theorie ist mir neu) auch ein Jude sei. Es klingt wie aus dem Lehrbuch der Verschwörungstheorien und ein bisschen bin ich zu müde und ein bisschen zu konfliktscheu, aber auf seltsame Weise macht mich seine Suada auch sprachlos, ich weiß gar nicht mehr, wo ich zuerst ansetzen soll. Das ist der Moment wo so eine endgültige Fremdheit zwischen mir und Th. aufsteigt (und auch M., die ich, auch wenn sie dazu gar nichts sagt, als stille Sympathisantin Th.s empfinde) und ich höre einfach auf zu reden, ich würde am liebsten kehrt machen und weggehen, aber irgendwie kann ich das auch nicht. Als wir an der Haltestelle Flora ankommen, verabschieden wir uns kurz, M. will mich - wahrscheinlich ein Reflex - umarmen, ich sie auch, aber wir strecken uns gleichzeitig auch eine Hand hin, so bleibt es distanziert. Th. gibt mir die Hand und wünscht mir, nun wieder aufrichtig fröhlich, eine gute Zeit noch in Prag.
In der Tram zum Karlsplatz grübele ich noch über das Gespräch nach, fühle mich schuldig, dass ich nichts gesagt habe. Als ich zu Hause bin, erzähle ich Karo davon, die schon im Bett liegt und im Halbschlaf ist, sie wacht auf und meint, dass es bei jemandem wie Th. eh keinen Sinn gehabt hätte zu argumentieren und ich mir keine Gedanken machen soll und dass er mir ja im Grunde nur erzählt hätte, wie verunsichert er von seinen eigenen homoerotischen Impulsen sei. Ich merke, wie mich ihre Worte beruhigen, aber ich bin trotzdem noch so aufgewühlt, von dieser Begegnung, dass ich lange nicht einschlafen kann. Denke immer wieder daran, wie wir vor zehn Jahren zusammen in Křivoklátsko wandern waren und ich mir nicht hätte vorstellen können, dass er mal eines Tages solch krude Thesen von sich gibt oder war das damals schon im Kern vorhanden? Wir haben uns damals vor allem über böhmische Geschichte unterhalten. Dann denke ich daran, dass alles, worüber wir gesprochen haben, natürlich ein Sinnbild für die Bruchlinien in unseren europäischen Gesellschaften ist und warum ich mich darüber denn wundere, es ist doch alles bekannt, sage ich mir und gleichzeitig suche ich fieberhaft nach dem einen Argument, um ihn auszuhebeln, um seine Haltung so zu hinterfragen, dass er ins Nachdenken gekommen wäre und denke, dass es deshalb meine Aufgabe gewesen wäre, Partei für die beiden Männer zu ergreifen, oder die Flüchtlinge. Denke dann noch über M. und die Sache mit der Abtreibung nach und schlafe darüber ein.