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Der Autor

Nassir Djafari wurde 1952 im Iran geboren und ist im Alter von 5 Jahren mit seiner Familie nach Frankfurt am Main gezogen. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre war er in verschiedenen Funktionen der deutschen und internationalen Entwicklungszusammenarbeit tätig.

Dem literarischen Schreiben widmet er sich seit 2012. Im Jahre 2020 erschien sein Debütroman „Eine Woche, ein Leben“ (Sujet Verlag) und 2022 folgte sein zweiter Roman „Mahtab“. Ein dritter Roman befindet sich derzeit im Lektorat.

Im November / Dezember 2023 ist Nassir Djafari ein Stipendiat im Prager Literaturhaus (in Zusammenarbeit mit dem Hessischen Literaturrat). Aktuell arbeitet er an einem literarischen Projekt zum Prager Frühling und den Aufenthalt in Prag möchte er zu einer Recherche vor Ort nutzen.

Bildnachweis:
© Nassir Djafari

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| | Feuilleton | 20.11.2023

Der verspätete Frühling

Zum ersten Mal interessierte ich mich für Prag als ich 15 Jahre alt war. Ich begleitete meinen Vater auf einer Geschäftsreise, die ihn nach Süddeutschland ins Schwäbische führte. Im Autoradio meldete der Nachrichtensprecher, sowjetische Truppen seien gemeinsam mit Einheiten aus der DDR, Polen und anderen Ländern des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei einmarschiert. Er sprach vom Ende des Prager Frühlings. Davon hatte ich schon gehört, dem aber nicht allzu viel Beachtung geschenkt. Abends in der Hotellobby sah ich dann die Fernsehbilder, Panzerkolonnen auf einer Landstraße, Panzer auf den Straßen Prags, umringt von protestierenden, die tschechoslowakische Nationalflagge schwenkenden jungen Menschen, und war empört, so wie alle anderen um mich herum. Etwas Einschneidendes war passiert, das war mir klar, auch wenn ich die Hintergründe noch nicht durchschaute. War das hier, was auf dem Bildschirm gezeigt wurde, der Beginn eines Krieges so wie der Krieg der Amerikaner in Vietnam? Dagegen war ich bereits auf die Straße gegangen, stolz darauf, mich den älteren Schülern und Studenten auf der Demonstration anschließen zu dürfen. In den Tagen nach dem 21. August 1968 verpasste ich keine Sendung der Tagesschau. Es blieb ruhig in dem Nachbarland, kein bewaffneter Widerstand, und bald schoben sich wieder Meldungen über den Vietnamkrieg in den Vordergrund.

Es sollten acht Jahre vergehen, bis ich wieder auf Prag aufmerksam wurde. Ich studierte im fünften Semester Volkswirtschaftslehre an der Goethe-Universität in Frankfurt und besuchte ein Seminar von Prof. Jiri Kosta, einem der engsten Mitarbeiter des Reformökonomen Ota Sik und Protagonisten des Prager Frühlings, neben vielen anderen. Ich hielt ein Referat, es gefiel dem Professor und er bot mir eine Stelle als Studentische Hilfskraft bei ihm am Institut an. In jener Zeit füllte ich all die Wissenslücken, die ich als 15-Jähriger noch gehabt hatte und begriff die Tragweite des Geschehens am 21. August 1968. Die Zusammenarbeit mit meinem tschechischen Professor hat meinen Horizont erweitert, was sicherlich auch an seinem freundlichen Wesen und seinem menschlichen Umgang mit den Studenten lag. Nach und nach erkannte ich, dass er mehr war als ein Kenner sozialistischer Wirtschaftssysteme und Mitstreiter des Prager Frühling. Während eines Blockseminars, das er im Kleinwalsertal in Österreich ausrichtete, fiel mein Blick auf die Tätowierung auf seinen Unterarm, es war Sommer, wir alle trugen kurzärmlige Hemden oder T-Shirts. Er bemerkte mein Erstaunen und sagte beiläufig, das sei seine Nummer gewesen, in Ausschwitz. Seine jüdische Herkunft hatte er uns Studenten gegenüber nie erwähnt, und auch sonst drängte er niemandem seine individuelle Geschichte auf, die nichts weniger als die Geschichte der Tschechoslowakei im 20. Jahrhundert spiegelte. Der Anblick seiner Tätowierung, mit der er wie ein Schaf, das zum Schlachten vorgesehen ist, markiert worden war, führte mir das Ausmaß des Völkermords der Nazis an Juden stärker vor Augen als die Bücher, die ich zu diesem Thema gelesen hatte.

In den Jahren danach las ich Kafka und Kundera, so wie viele meiner Freunde, aber Prag und die Tschechoslowakei gerieten dennoch aus meinem Blickfeld. Auch die Samtene Revolution, mit der sich das Land 1989 endlich aus den Fängen der Sowjetunion befreite, beachtete ich kaum, stand sie doch für uns in der Bundesrepublik im Schatten der parallel verlaufenden Ereignisse in der DDR.

Wieder waren es Fernsehnachrichten, die meine Aufmerksamkeit auf unser Nachbarland lenkten. Es war der 24. Februar 2022, ich verbrachte einige Tage mit meiner Frau an der Ostsee, da platzte die Nachricht vom russischen Einmarsch in die Ukraine in unser Urlaubsidyll. Wir schalteten das Fernsehgerät an, und ich hatte ein Déjà-vu. Der Widerstand, der 1968 ausgeblieben war, entfaltete sich nun von Anfang an, und in voller Breite.

Heute sitze ich in der schönen Wohnung in der Masarykovo nábrezi, die das Prager Literaturhaus ihren Stipendiaten zur Verfügung stellt, am Schreibtisch und komme wieder zurück zu den Ereignissen rund um den 21. August 1968 und frage mich, was in einem Volk vorgeht, dass in den vergangenen 400 Jahren nur 55 Jahre selbst seine Geschicke in der Hand hatte. Als die Tschechen und die Slowaken nach 300 Jahren, in denen sie Teil des Habsburger Reichs gewesen waren, ihre erste Republik ausriefen, ahnten sie nicht, dass zwei Jahrzehnte später die Stiefel der deutschen Besatzer ihre gerade erst errungene Unabhängigkeit in den Staub treten würden. Die siegreiche sowjetische Armee setzte dem Nazi-Terror ein Ende. Doch eben noch als Befreier begrüßt, verwandelte sich die Sowjetunion in die neue Vormacht, die jedes Aufbegehren im Keim erstickte. Heute vor genau 34 Jahren, am 17. November 1989 schüttelten die Tschechinnen und Tschechen ihre Herren ab und nahmen ihre Zukunft in die eigene Hand. Und so kehrte der Frühling nach Prag zurück, und blieb.

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