Ich bin über die Karlsbrücke gewandert, meinen Photoapparat in der Hand, ganz touristisch. Da erblickte ich die zärtliche Anbahnung. Zwei Turteltauben waren am Flirten. Ich photographierte es. Dann geschah es, ganz fix wurde aus dem Flirten Sex und dann ein Nachkuscheln. Ich hielt es alles auf Lichtbild fest. Ich hatte den Taubensex mit der Kamera eingefangen. Vielleicht ist es nur pervers, weil ich als Zuschauender davon berichte.
Eigentlich ist es ganz romantisch, ein Flirt, ein wenig Völgeln und Kuscheln, direkt über dem Fluss und auch noch neben einer kunstvollen Statue. Ein Kloakenkuss (das poetische und gleichzeitig dreckige Wort für Vogelsex). Sowas erzählt man sonst nur guten Freunden bei einem Gläschen Wein oder einem Stückchen Brot.
In Zeiten der Pandemie – oder hoffentlich dem Ausklang jener – frage ich mich, wie die Zeit des Lockdowns und des Non-Tourismus unsere städtische Tierwelt verändert hat. Immerhin berichteten dutzende Zoos und Aquarien von depressiven Tieren; depressiv durch das Ausbleiben der Besucher*innen. Wenn die Tiere im Lockdown sind, sogar in Herden, kann sie das wohl auch depressiv machen. Eine Einrichtung in Japan bat sogar darum mit Aalen zu facetimen, da diese ohne menschliche Anwesenheit depressiv und depressiver wurden. Wir fehlen den Tieren, was ich ziemlich rührend finde.
Jetzt frage ich mich, ob die Tauben vor mir gevögelt haben, weil die Touristenmassen auf der Karlsbrücke ausblieben an diesem Tag oder etwa, weil ich da war, um sie zu beobachten? Schrödinger kennt die Antwort und kennt sie doch nicht. Doch der Beobachter verändert das Szenario – gerade beim Sex, seien wir da alle ehrlich.
Unter dem Luggage Storage Prague finde ich das Graffiti: Go Home Tourists. Jetzt weiß ich noch, wie ich die Mallorca-Urlaubmachenden verurteilt habe, die im April 2021 unbedingt ihren Urlaub gebraucht haben, aber ich merke, wie sich etwas in mir verändert. Wo(durch) und ab wann beginnt der Tourismus schädlich zu werden?
Meine Theorie ist, dass jede Stadt heute ein Tourismus Ort ist, es ist ein Faktor, der nicht mehr wegzuden… doch wir haben es gerade erlebt. Wie geht es den Hotels? Den Touristenfallen? Souvenirläden? Den Tauben? Die Ratten der Lüfte genannt, wer schaut sie sich schon gerne an. Aber vielleicht brauchen sie, dass wir ab und an hingucken. Und auch nicht nur beim Sex.
Oder auch nicht: meine Wohnung des Prager Literaturhauses hat einen französischen Balkon. Darauf hat sich eine Taube eingenistet. Es war ja lange genug niemand in dieser Wohnung. Jetzt passiert es, dass immer, wenn ich durchlüfte, die Taube nervös vor dem Fenster rumfliegt. Von links nach rechts. Von lechts nach rinks. Und schaut, wann sie endlich wieder in Ruhe ihr Nest nutzen kann und sich ungestört fühlen kann. Tja.
Wir waren wenige an diesem Tag auf der Karlsbrücke. Mit wir meine ich Tourist*innen. Ich hege auch meine Ressentiments gegen Tourist*innen. Dabei ist das Reisen und Kennenlernen neuer Orte, Kulturen und Menschen wichtig für die eigene Persönlichkeit und ein gegenseitiges Verständnis. Und auch für die Kasse von vielen Menschen – machen wir uns da nix vor. Der Hass auf Tourismus beginnt dort bei mir, wo das Gesehene nur als kaufbares Erlebnis wahrgenommen wird, aber nicht als Lebensraum. Ich kann mir vorstellen, dass viele Tourist*innen Prag als Zoo betrachten. Ich muss dem Widerspruch standhalten dieser Gruppe zuzugehören. Und vielleicht auch mein Verhalten ändern. Ich würde gerne mehr auf Menschen zugehen, Prager*innen kennenlernen. Doch nach der Pandemie fällt es mir schwerer als zuvor. Die Abwesenheit der Menschen hat auch mich beeinflusst. Ich möchte nun aber nicht ausschließlich Ornithologe werden. Und die Taube auf dem französischen Balkon kann es gar nicht abwarten, das ich abhaue.