Bei geschlossenem Fenster höre ich den Herbstwind ums Haus pfeifen und heulen, dass die betagten Doppelglasfenster scheppern. Durch die Fensterritzen dringt ein kühler Hauch. Zwei mächtige goldenen Laubbäume auf der Slaveninsel hat er in zwei Nächten komplett entlaubt.
Bei geschlossenem Fenster sehe ich wie zwei Laubbläser die wild verstreute Laub-Hinterlassenschaft stoisch und brachial wie eine Noise Metal Band zusammen pusten. Dann gehen sie in die Mittagspause. Nach der Mittagspause hat der Wind das Laub wieder über die gesamte Insel verteilt.
Bei geschlossenem Fenster höre ich in der Wohnung unter mir junge Stimmen fleißig Tonleitern entlang klettern. Da da da (hoch) da da (runter). 14 – 19 Uhr. Da da da (hoch) da da (runter).
Beim Öffnen des Fensters, wenn die Laubsauger pausieren, höre ich das Moldauwasser über Staustufen rauschen, die Straßenbahnen in den Schienen knirschen und betrunkene Touristen grölen.
Egal, ob ich das Fenster öffne oder schließe, ob ich mich im Haus oder außer Haus befinde, ob ich mich in der Neustadt oder der Altstadt, in Josefov oder Zizkov, in Mala Strana oder Smichov aufhalte – es gibt ein Geräusch, das mich verfolgt, ein Geräusch, dass die Prager selbst nicht wahrzunehmen scheinen.
Ein durchdringendes langgezogenes Heulen, das kurz in ein Stakkato übergeht und dann wieder durchdringend aufheult. Eine amerikanische Sirene. Ich höre es nicht nur, ich sehe es schließlich auch. Unauffällige schwarze Personenwagen, offizielle Polizeifahrzeuge und die gelben Krankenwagen sausen ununterbrochen mit Blaulicht und Sirene durch Prag.
Tagsüber ertönen die Sirenen ununterbrochen, eigentlich überlagern sie alle anderen Geräusche, bis nachts der Wind übernimmt.
Wenn man die Augen schließt, fühlt man sich wie in New York oder Chicago. Wenn man sie öffnet sieht man die Moldau behäbig fließen, Tret-Bote treiben, den Hradschin regungslos über der Stadt thronen, die Touristenhändler böhmisches Kristall anpreisen, die Menschen in Cafés vor fetten Torten oder in den Pivnices vor bauchigen Biergläsern sitzen.
Alles fühlt sich entspannt an. Ja, so höre ich, Smichov wäre früher mal ein unangenehmer und unsicherer Stadtteil gewesen. Der Bahnhof sei einmal ein finsteres Loch gewesen, das man lieber nicht betreten hätte und der Park vor dem Bahnhof bekam wegen der zahlreichen Diebe den Spitznamen „Sherwood Forest“. Davon ist heute nichts mehr zu spüren. Aber irgendwo muss das Verbrechen ja lauern. Die Sirenen werden ja nicht einfach zum Spaß angestellt. Irgendwo müssen die Massenkarambolagen sein, die Terroranschläge, die Jugendgangs, die Auseinandersetzung rivalisierender Mafiaclans. Drogenexzesse ausländischer Jugendlicher... So wie es in Prag neben den Straßen die vielen Passagen und Durchgänge gibt, so existiert vielleicht auch eine unsichtbare Unterwelt voller Gewalt und Schmerz, voller Trauer und Wut.
Oder handelt es sich doch um Übungen oder eine spezielle tschechische Sportart? Sollen die Sirenen vielleicht beruhigen und demonstrieren, dass der Staat für Sicherheit und Ordnung sorgt?
Man sagt mir, die Prager hätten eine Neigung bei den kleinsten Problemen die Polizei zu rufen. Ein Kratzer am Auto, ein Streit mit der Ehefrau. Ich bin fest davon überzeugt, dass da mehr dahinter steckt. Die Prager Sirenen, ein ungelöstes Rätsel.