Am Sonnabendvormittag, an einem heißen Maitag, fuhr ich mit der Straßenbahn der Linie 11 zum Friedhof Olšany. Hinter dem Nationalmuseum zerfasert die Stadt nach und nach, anstelle der Häuser mit den immer noch prächtigen Fassaden aus der k. und k. Zeit tauchen Neubauten auf, viel Raum dazwischen, in dem Bäume üppig grünen, Plätze sich weiten, ein belebter Wochenmarkt zeigt sich neben dem modernen Kirchenbau, gleich dahinter ragt der markante Fernsehturm in die Höhe. Auf der Übersichtstafel der Prominenten steht zwar der Name Jan Palach, das betreffende Areal erweist sich indes als zu groß, um ohne weiteres sein Grab zu finden. Ich muss mich im Büro erkundigen. Das Grab ist gar nicht weit von hier entfernt. „Rechts“, sagt die freundliche Angestellte, „gleich rechts, das Grab hat keine Säule.“
Der Grabkörper ist in voller Länge von einer dunklen metallenen Hülle überzogen, von einer Haut, muss ich denken, die einen menschlichen Körper nachbildet, dessen Konturen sich unscharf gestalten. Am Fußende in die Haut, nun bleibe ich doch dabei, eingearbeitet sein Name, ein Porträtfoto und wenige Lebensdaten in aufrecht gestellten kleinen Rahmen, Ewige Lichter, ein paar Blumen - unauffällig erscheint die Anlage, geradezu zurückgenommen.
Zum ersten Mal hörte ich von ihm als Fünfzehnjähriger, der in seinen Winterferien nichts anderes mit sich anzufangen wusste, als von seinem Vorort mit der S-Bahn ins tschechoslowakische Kulturzentrum in der Friedrichstraße in Ostberlin zu fahren, unmittelbar an der Weidendammer Brücke über die Spree. Dort konnte ich in die Schallplatten des weltberühmten Labels Supraphon hineinhören. In dem dazugehörenden Café lagen Zeitungen aus, einige auch in deutscher Sprache. Sie berichteten über Jan Palach, der sich am Tag davor auf dem Wenzelsplatz mit Benzin übergossen und angezündet hatte. Fackel, so hatte er sich in einem Brief genannt und das Land aufrütteln wollen, das in Lethargie zu ersticken drohte, nachdem im letzten Jahr die Panzer des Ostblocks, zu denen die meines Landes unbedingt dazugehören wollten, den Prager Frühling niedergewalzt hatten.
Ich täuschte mich nicht, ich überflog erneut die Artikel, die Zeitungen zeigten nicht nur Anteilnahme mit ihm, sondern feierten die Tat. Ich schaute mich entsetzt um, niemand nahm wohl von meiner Lektüre Notiz, jeder war in seine eigene vertieft. Das Kulturzentrum schien exterritoriales Gebiet zu sein, hier herrschten andere Gesetze als in meinem Land, in dem der Name Jan Palach verschwiegen wurde. Mit Sicherheit hätten diese Zeitungen draußen Gefängnis bedeutet.
Ich musste nun täglich zur Friedrichstraße fahren, schwänzte die ersten Schultage, las vom Tod des Philosophiestudenten drei Tage nach seiner Selbstverbrennung, von den 200.000 Demonstranten am Nachmittag, die zum Wenzelsplatz zogen. Palach war zwanzig Jahre alt, nur fünf Jahre älter als ich. Ich wollte mein Abitur machen und studieren wie er, Philosophie gehörte zu meinen bevorzugten Disziplinen. Neben dem Mauerbau hat mich sieben Jahre danach der Prager Frühling und sein gewaltsames Ende am meisten geprägt. Ich sah mich als ohnmächtigen Zeugen einer verlorenen Chance, ebenso ohnmächtig wie damals beim Bau der Mauer.
Und jetzt Jan Palach, sein grausames Aufbegehren als Ultima Ratio: die Fackel. Indem ich an seinem Grab stehe, auf dem Friedhof Olšany im herrlichsten Maisonnenschein, mehr als 50 Jahre nachdem ich von ihm gehört habe, schließt sich für mich ein Kreis. Es scheint, als habe Palach mir die ganze Zeit lang über die Schulter geblickt.