Róža Domašcyna, gebürtige Oberlausitzerin, ist Autorin und Übersetzerin. Sie schreibt überwiegend Lyrik und Prosa, die sich stark auf ihre sorbische Herkunft bezieht.
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Der Autor
Etwas sagen über zwei Monate in Prag ...
November 2014
Etwas sagen heißt etwas schreiben. Es ist der 1. Oktober. Anreise. Ein lange gehegter Wunsch. Und immer im Sinn “zlata Praha - das goldene Prag”. Vom Fenster meiner Wohnung aus begreife ich den Wortsinn: die Bäume an der Moldau werden in ihren Kronen zuerst goldgelb. Die Wohnung erinnert mich an meine Studentenzeit in Leipzig, an die Jahre 1985-1989. Nur dass ich Kohleheizung hatte, aber die Stufenanzahl bis zur Wohnung war wohl ähnlich. Das Arbeitszimmer hier gleicht eher dem Seminarraum.
Im Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren werde ich herzlich aufgenommen. Aufgenommen heißt angenommen. Mein erster Weg beim Spaziergang – ein Antiquariat. Ich frage nach sorbischsprachigen Büchern. Der junge Antiquar an der Ecke des Narodni divadlo sieht in seinem Compter nach: fünf Bücher hat er in sorbischer Sprache. Ich entdecke einen Kalender mit Arbeiten von Josef Lada aus dem Vorjahr und versuche ihm zu erklären, dass dieser Künstler das allererste sorbischsprachige Kinderbuch illustriert hat. Das war Ende der Fünfziger. Einige Seiten des stark zerlesenen Hartpapierbuches hüte ich wie einen Schatz. “Směj so - Lache”. Kinderbücher waren mit die ersten, die im neu gegründeten Domowina-Verlag erschienen. Freilich hatte es Vorläufer gegeben. Die slawische Buchhandlung, die Jan Bohuwěr Pjech 1863 gemeinsam mit Freunden in der Lausitz gründete, wobei er 43 Jahre seine Brötchen als Lektor im Leipziger Verlag Brockhaus verdiente. 1937 wurde dann jegliche Publikation in sorbischer Sprache verboten. Das betraf später auch Publikationen, die im Ausland erschienen, so die handschriftlich verfasste Untergrundzeitschrift “Gmejska heja” der sorbischen Studenten in Prag, die sich “Praska Serbowka (Prager Sorbin)” nannte. Mein Onkel Jurij Khěžka, der von 1929 bis 1937 in Prag lebte und studierte, gab sie vom Oktober 1937 bis Juni 1938 heraus. In dieser Zeitschrift sprach er sich gegen die Politik in Deutschland aus, veröffentlichte Gedichte und Aufrufe.
Der junge Antiquar versteht mein sorbisch-polnisches Tschechisch. Beflissen sucht er mir im Internet noch drei weitere Bücher heraus, die er ohne Probleme für mich besorgen könnte. Ich nehme doch lieber den vorjährigen Kalender mit den Bildern des Josef Lada, ein bisschen Nostalgie muss sein. Antikvariát Vltavin - woher weiss er von den Sorben? Über die Bücher natürlich. Natürlich. In Prag nehme ich so eine Antwort als selbstverständlich hin. In Deutschland wäre sie anders ausgefallen.
Die ersten Tage im Oktober sind Jahrestagtage. 25 Jahre politische Wende in Deutschland. Am Goetheinstitut finden Gespräche statt, und dann wird am 7. Oktober der Film “Nikolaikirche” gezeigt. Der Vorführraum ist zu einem Drittel besetzt. Die achtziger Jahre in Leipzig - das Lebensgefühl dieser Jahre ist wieder nah. Die Demos, der Einsatz gegen den weiteren Braunkohleabbau, dann die Kulturgruppe des Neuen Forums in meiner Heimatstadt. An diesem Abend wird mir bewusst, dass es hinsichtlich des Umweltverständnisses in der sorbischsprachigen Literatur keine Unterbrechung gab. Bis in die Gegenwart zieht sich der Kampf gegen die Verwüstung der Natur und das Beschneiden des Lebensraumes in der Lausitz, was freilich jetzt auf internationaler Ebene geschieht.
Im Oktober findet hier auch ein Festival deutschsprachiger Filme statt. Unter anderem wird “Die Klavierspielerin” gezeigt, eine internationale Produktion aus dem Jahr 2001. Und in der Wohnung unter mir wird jeden Tag fleißig Klavierspiel und Gesang geübt. Ich höre gern zu.
Dabei muss ich an die Erzählungen des Vaters denken, wie er mit seinem Bruder in Prag im Kino gewesen ist. Ich gehe ins “Lucerna” und stelle mir die beiden damals jungen Männer vor. Was haben sie sich angesehen?
Mein Onkel trug sich mit dem Gedanken, die tschechische Staatsbürgerschaft anzunehmen und schrieb seine letzten Gedichte in tschechischer Sprache. Er wollte nicht mehr zurück nach Deutschland, wollte als Lehrer an einem tschechischen Gymnasium arbeiten. Das ist ihm nicht gelungen. Er ist 1944 in Serbien verschollen - beim wiederholten Versuch, aus der Wehrmacht zu desertieren. Damals war er 27 Jahre.
Vater hat den Professor seines Bruders, Josef Páta, einige Male in Prag besucht. Er sollte nicht mehr kommen: ein Soldat in deutscher Uniform.
An einem Abend gehe ich in die “Galerie Moderna”, zur Ausstellungseröffnung der Arbeiten von František Hudeček, die unter dem Motto “Tulák po hvězdách – Landstreicher zwischen den Sternen” steht. Technische Konstruktionslinien und freie Phantasien münden in den Arbeiten immer wieder im Kopf und im Auge. Die Sicht auf die Dinge oder die Dinge, die von Ansichten ausgehen, sind ihm wichtig.
Ansicht – von meinem Fenster hat man einen Panoramablick über die Dächer der Stadt. Was für Geschichten stecken wohl unter jedem?
Das Kabinett der Prager auf deutsch geschriebenen Literatur beherbergt solche, die über Jahrhunderte reichen. Und ich meine nicht nur die von Franz Kafka oder Lenka Reinerová. In hölzernen Fächern sind Namen und Lebenswege aufbewahrt, jüdische Autoren. Darüber, in Regalen, ihre Bücher. Auch einige Frauen sind darunter. Mir fällt der Name von Alma Johanna Koenig auf. Geboren 1887 in Prag, gestorben 1942 im Vernichtungslager Maly Trostinez bei Minsk. Wie wird ihre literarische Arbeit heute wahrgenommen? Wird sie wahrgenommen? In welchem Land, in welcher Sprache?
Wer besucht das Kabinett des Prager Literaturhauses? Jugendliche, Kinder, sagt man mir. Viele aus Deutschland.
Auf geschichtlichen Pfaden trifft man in Prag auch das bislang Unentdeckte, wie die Spuren einer byzantinischen Kirche aus dem 10. Jahrhundert in Vyšehrad.
Und sowieso gibt es viele literarische Angebote. So die Vorstellung des Buches “Der Thronfolger” des jüdischen Autoren Ludwig Winder, von dem ich noch nichts kannte und über dessen Leben Alena Wagnerová an diesem Abend sehr lebendig berichtet hat. Oder die Präsentation der Übertragung des “Manifestes” von Walter Serner, der in Karlovy Vary geboren wurde und in einem Vernichtungslager 47jährig starb. Vor allem junge Menschen waren ins Literaturcafé gekommen, um dem Übersetzer und der Vorleserin zuzuhören. Gelesen wurden die Übersetzungen.
Ich treffe mich mit Freunden, auch von der Společnost přáteli Lužice – dem Kreis der Freunde der Lausitz. Höre, wie die junge Sängerin Silvie Morasten meine Texte intoniert. Lese im Klub “Paliárka”, fahre nach Varnsdorf, lese dort in der Stadtbibliothek, treffe mich mit Milan Hrabal, dessen Gedichte ich übersetze.
Kurz vor der Abfahrt aus Prag dann die Lesung im Lausitzer Seminar, Malá strana. Und es ergeht mir, wie oft in dieser Stadt: Kaum habe ich die Karlsbrücke verlassen und bin in die Gasse eingebogen, fühle ich mich zu Hause. Das hat nicht nur mit meinem Onkel zu tun, dessen Spuren ich dort weiß. Das Haus, 1728 von den sorbischen katholischen Geistlichen Měrćin und Jurij Šimon gegründet, beherbergt heute auch das Verbindungsbüro des Freistaates Sachsen in Prag. Über mehrere Generationen war das Haus Lehrstätte für die junge sorbische Intelligenz. Der Dichter Jakub Bart-Ćišinski (1856-1909) ist dort von 1871-1881 aus- und eingegangen. Später dann hat er in Dresden, wo er Kaplan an der Hofkirche war, die tschechische Opernsängerin Theresa Saaková kennengelernt, der er seinen Gedichtband “Přiroda a wutroba” (Natur und Herz) widmete. Und die Dichterin Mina Witkojc (1893-1975) hat dort bis 1954 gewohnt, nachdem sie in Deutschland Schreibverbot, Vertreibung und Verhaftung erlebt hatte.
Wer kennt diese Dichter, ihre Arbeiten und Biographien in Deutschland? Wer in Sachsen, ausser in der sorbischsprachigen Lausitz? Wer interessiert sich für sorbischsprachige Literatur?
In Prag ist das Interesse am sorbischsprachigen kulturellen bzw. literarischen Leben geblieben, und nicht nur, weil die Bibliothek des Michał Hórnik im Erdgeschoss des Lausitzer Seminars weiterhin ihr Domizil hat. Dem Leseabend schloss sich eine Besichtigung der Bibliothek an. Auch Schüler aus den sorbischen Schulen sind dort gern gesehene Gäste. Es sind aber vor allem die lebhaften gegenwärtigen Kontakte auf kulturellem Gebiet, die mich beeindrucken. Die Leute von der “Společnost”, vor allem der junge Radek Čermak, der dazu ein wandelndes Lexikon zu sein scheint. Prosa und Lyrik werden in der Übertragung aus dem Sorbischen publiziert, auch Stücke gespielt, wie eben von der Gruppe “Nepřijatení” ein Stück in niedersorbischer, tschechischer, obersorbischer und schwedischer Sprache.
Auf dem Weg von der Lesung fliegen Möven über die Karlsbrücke. Sie fliegen tief, lassen sich Zeit. Ihre hellen Bäuche über den Köpfen leuchten im Zwielicht: wie Papierblätter, Manuskriptseiten.
Ich fahre ungern. Zuerst aber treffe ich mich noch mit Eero Balk, einem Finnen, der auch aus dem Tschechischen und dem Sorbischen übersetzt. Gegenwartsliteratur vor allem. Dann noch in der Pizzeria “Kmotra” ein Treffen mit Jaromir Typlt, dem Prager Dichter, von dem ich schon etwas ins Sorbische und Deutsche übertragen habe.
Unterwegs im Zug nach Dresden denke ich an Jurij Khěžka. Aus Prag, wo er verhaftet wurde, ist er nach Dresden ins Gefängnis Mathildenhof gebracht worden. Und 1939, vier Wochen vor Schließung der Hochschulen in Prag, wurde er in die Wehrmacht eingezogen.
Ich versuche mit meinen Gedanken in der Gegenwart zu bleiben. Bei der Nachdichtungsarbeit, die ich mir als wichtigste Aufgabe in der Stadt vorgenommen hatte. Viele Fragen sind geklärt, wie die nach der “Fliege”, die im Tschechischen und Sorbischen “Schmetterling” genannt wird und bei Feierlichkeiten den Hals von Männern ziert. Und wie sollte ich “Borborka” übersetzen? Bärbelchen, Bärbelein, Bärbel oder Barbara – Diminutive, die im Deutschen nicht das ausdrücken, was im Original möglich ist.
Ich habe es doch leicht, sag ich mir bezüglich Jan Bohuwěr Pjechs, der aus dem Russischen, den Sprachen, die im ehemaligen Jugoslawien gesprochen werden, weiterhin aus dem Bulgarischen, Tschechischen, Französischen, Englischen und Spanischen ins Sorbische und Deutsche übersetzt hat.
Die Stadt zieht im grossen Bogen am Zugfenster vorbei. Die Bäume sind entlaubt, die Kuppeln der Kirchen glänzen nun unverhüllt golden. Und mit einem Lächeln denke ich das sorbische Wort kmótra, Patin. Das ist die Stadt auch mir geworden.